Aus dem Leben des ehemaligen Bürgermeisters Franz Ziegler
Ursula Weitendorf, geb. Ziegler
Mein Vater Franz, August, Ludwig Ziegler wurde am 19.11.1896 in Rostock als zweiter Sohn seiner Eltern Ludwig Ziegler und Anna Ziegler, geb. Hachmeister geboren. Er wuchs zunächst in der östlichen Altstadt in der Wollenweberstraße im großelterlichen Haus Hachmeister, einem Sattlermeister, auf. An diese Zeit der frühen Kindheit hatte er viele Erinnerungen, die er später gern an uns Kinder und auch noch an seine Enkelkinder weitergab. Als in der Familie noch ein dritter Sohn und eine Tochter geboren wurden, verzogen die Eltern mit den vier Kindern und noch einem Neffen, der Vollwaise war und in der Familie aufgenommen wurde, in die Haedgestraße in der Kröpelinertor Vorstadt. Diese Straße wurde von den Wallanlagen mit dem Kanonsberg und einem Wasserlauf, der am Haedgehafen in die Warnow mündete, begrenzt. Hier hatten mein Vater und seine Brüder reichlich Gelegenheit Abenteuer zu erleben. Wenn man sich z. B. auf dem Eis, der damals noch in jedem Winter zugefrorenen Warnow, nasse Hosenböden und nasse Füße holte und diese dann auf der Heizung in der großen Schalterhalle der Post trocknen ließ, ehe man sich nach Hause wagte; oder das Erlebnis, wenn im Haedgehafen die Käseschiffe aus Holland einliefen. Das Leben im Elternhaus meines Vaters lief sehr bescheiden ab, war es doch für einen kleinen Beamten zur damaligen Zeit mit großen Entbehrungen verbunden, drei Söhne aufs Gymnasium (damals mußte noch Schulgeld bezahlt werden) und später auf die Universität zu schicken.
Mein Vater besuchte das Gymnasium in Rostock am Rosengarten und legte dort im Frühsommer 1914 das Abitur ab. Bei Ausbruch des I. Weltkrieges im August 1914 wurde er als junger Offiziersanwärter eingezogen. Er befehligte als junger Leutnant eine Kompanie, die in Frankreich vor Verdun eingesetzt wurde, später in Italien an der Isonzofront. Unter anderen waren diese beiden bekannten Schlachtfelder für ihre besonders großen Verlust bekannt. Mein Vater wurde mit dem EK I und EK II ausgezeichnet. Die schrecklichen Erlebnisse dieses Krieges prägten auch das spätere Leben meines Vaters. Er war ein sehr ernster und sehr ruhiger junger Mann geworden.
Franz Ziegler als Offizier im I. Weltkrieg
Franz Ziegler als Offizier im I. Weltkrieg
Nach Beendigung des Krieges schrieb sich mein Vater 1919 an der Alma mater (Universität) in Rostock für das Jurastudium ein. Da er als junger Mann gerne und viel Sport trieb, trat er der Studentischen Sportverbindung “Arminia” bei. Seine Studiengebühren verdiente sich mein Vater im wesentlichen durch Nachhilfestunden. Die erste juristische Prüfung legte er 1925 mit Erfolg ab und arbeitete nun als Referendar in einer alteingesessenen Rechtsanwaltspraxis in Rostock. Nach dieser vorgeschriebenen Referendarzeit legte er dann das 2. juristische Examen als Assessor ab. Da für die Eröffnung einer Anwaltspraxis größere Geldmittel nötig waren, entschloß sich mein Vater für den Staatsdienst, also die Beamtenlaufbahn. Er bewarb sich für die ausgeschriebene Stelle eines Bürgermeisters in Neukalen. Der Amtsvorgänger war seines Amtes enthoben worden wegen Vernachlässigung seines Amtes, “da er dem Trunk verfallen war”. Zur Bürgermeisterwahl stellten sich noch zwei weitere Kandidaten. Mein Vater wurde dann am 7.3.1927 mit 317 von 613 Stimmen zum Bürgermeister gewählt 1).
Am 1.4.1927 wurde er dann in sein Amt eingeführt. Nach einer Übersiedlung von Rostock nach Neukalen wohnte er im Haus von Viehhändler E. Lückstaedt und seiner Frau Erna in der Bahnhofstraße und wurde hier von seiner Wirtin (für uns später “Tante Erna”) sehr verwöhnt. Zu dieser Zeit war er bereits verlobt.
Verlobungsanzeige Franz Ziegler
Meine Eltern lernten sich 1924 anläßlich eines Studentenballs kennen und bereits zu dieser Zeit stand für meinen Vater fest: “diese oder keine”. Mit seiner bekannten Hartnäckigkeit und Beharrlichkeit warb er um meine Mutter und am 19.8.1926 fand die Verlobung statt; am 16.3.1928 dann in Rostock die Heirat mit Paula, Anna, Berta, Alma Schultz, geboren am 21.2.1903 in Wismar, wo sie ihre Kindheit und Jugend mit zwei Brüdern verlebte. 1923 erfolgte der Umzug nach Rostock, da der Vater hier eine Stellung als Bezirksschornsteinfegermeister erhielt. Da dieses gerade in der Inflationszeit war, mußten die Großeltern als Bezahlung für den Umzug ihr Haus in Wismar verkaufen.
Nach der Hochzeit wohnten meine Eltern zunächst weiter bei Lückstaedts in der Bahnhofstraße. Zum Einzug des jungen Ehepaares hatte Erna Lückstaedt auf einem großen Tisch die Geschenke von Freunden, Bekannten und Stadtverordneten aufgebaut und mitten dazwischen als Geschenk vom Ehepaar Lückstaedt ein entzückender, ganz junger Dackel “Jutta”. 1928 zogen meine Eltern dann in das Haus in der Fritz - Reuter - Straße 6. Dieses hatte 1927 der Zimmermeister Freitag gebaut, der es nach seinem Fortzug nach Warin an meinen Vater vermietete 2).
Über sein Wirken in beruflicher Hinsicht kann ich relativ wenig sagen, da sein Prinzip stets war, Berufliches und Privates zu trennen. So erfuhr meistens die Familie häufig erst von bestimmten Aktivitäten durch dritte Personen. Besonders ich als Tochter - damals noch ein Kind - weiß über diese Dinge recht wenig, so daß ich mich auf Vorgaben des Chronisten Herrn Schimmel stütze.
Da war zum Beispiel die Eröffnung der Badeanstalt am 5.8.1928 an der Peene oder die Einweihung des Denkmals für die Gefallenen des I. Weltkrieges am 19.10.1930, von der ich noch in meinem Besitz befindliche Bilder zur Verfügung stellte. Ein herausragendes Ereignis war der Königschuß und die 650 Jahrfeier mit großem Umzug vom 16. - 19.7.1931. Hiervon existieren noch eine Reihe von Bildern, die ebenfalls zur Dokumentation herangezogen werden können. Da ich zu dieser Zeit erst 2 Jahre alt war, kann ich mich nur durch Erzählungen und Bilder daran erinnern, doch sind mir spätere Schützenfeste noch gut in Erinnerung. Sie waren immer das Ereignis des Jahres in Neukalen, und ich werde in meinen persönlichen Erinnerungen später darauf zurückkommen. Im Jahr 1932 wurde die Kleinkinderschule durch die Stadt übernommen. Die Leitung hatte eine ältere, sehr kleine Diakonisse, “Tante Marie” genannt. Ebenso wurde das Krankenhaus in Neukalen von der Stadt verwaltet. Geführt wurde es, neben einigen Hilfskräften für Haus, Stall und Garten, ebenfalls von zwei Diakonissen, Schwester Katharina und Schwester Agnes.
Bürgermeister Franz Ziegler
1930 gab es in Neukalen 147 Arbeitslose. Dem Bürgermeister unterlag die Leitung von Notstandsarbeiten zur Verminderung der Arbeitslosigkeit. Diese Arbeiten bestanden in Meliorationsarbeiten in der Teichweide und den Krimwiesen sowie Anlegung einer Kiesgrube. 1935 gab es dann auch nur noch 12 Arbeitslose. 1934 wurde die Fritz - Reuter - Straße gepflastert, davor war sie oft in der Regenzeit und nach der Schneeschmelze eine einzige Moraststraße. Einmal beobachtete mein Vater wie ein Kutscher mit dem Peitschenstiel auf seine Pferde einschlug, weil diese den schwerbeladenen Wagen nicht durch den Morast ziehen konnten. Wutentbrannt lief er auf die Straße und schrie den Kutscher an, er solle sofort Hilfe holen, anstatt auf die Tiere einzuschlagen. Dieser darauf: “Hest Du mi öwerhaupt wat tau seggen?” “Jawohl, ich laß Sie wegen Tierquälerei einsperren, ich bin hier der Bürgermeister!” Ein zweites Gespann kam dann auch zur Hilfe.
Laut Beschluß der Nationalsozialisten hatte jede Stadt Siedlungshäuser zu errichten. Diese wurden im Jahr 1937 in der John - Brinckmann - Straße in unmittelbarer Nähe meines Elternhauses erbaut.
Im September 1937 fand in Neukalen und weiterer Umgebung ein großes Wehrmachtsmanöver statt. Hierzu gab es ein Ereignis, welches wohl zum großen Teil ausschlaggebend für den späteren Lebensweg meines Vaters war. Es war zu Beginn des Manövers; mein Vater kam von einer Landtagssitzung in Güstrow zurück, als er auf dem Marktplatz zwei Wehrmachtsfahrzeuge sah, auf denen mehrere Neukalener Sozialdemokraten und Kommunisten standen. Auf seine Frage, was hier geschähe, erhielt er die Antwort: “Wegen politischer Unzuverlässigkeit kommen diese Personen für die Zeit des Manövers in Sicherungsverwahrung”. (Rückblickend muß man vermuten, sie wären wohl gar nicht mehr entlassen worden.) Nichts konnte meinen Vater mehr in Wut bringen wie Ungerechtigkeiten und Gewaltmaßnahmen. Er wurde gefährlich ruhig und sagte dann mit eisiger Stimme: “Kommt alle vom Wagen herunter!” und zu den Verantwortlichen: “Hier in dieser Stadt bin ich Bürgermeister, und was ich sage gilt, ich verbürge mich für alle!” Dieses wurde meiner Mutter von Augenzeugen erzählt. Mein Vater selbst verlor kein Wort zu dieser Angelegenheit. Diesen persönlichen Einsatz vergaßen ihm die Beteiligten nicht, worüber ich später berichten werde. Für ihn selbst hatte es jedoch zur Folge, daß er künftig im Blickfeld der Gestapo stand. Um wohl die Familie von diesbezüglichen Konsequenzen zu schützen, folgte er dem Rat von Freunden und beantragte 1937 schweren Herzens die Aufnahme in die NSDAP. Trotzdem wurde im Sommer 1939 erwogen, ihn an die Grenze zum polnischen Korridor zu versetzen, doch im September 1939 begann der II. Weltkrieg.
Ab 1934 mußte er als Bürgermeister monatlich politische Berichte an den Landrat geben. Nach den heute noch vorliegenden Dokumenten im Kreisarchiv Demmin geht es hier um sachlich, objektive Berichte; er stellte gleichzeitig aber auch kritische Fragen. Eine Judenfrage gab es in Neukalen nicht, da die einzige jüdische Familie Löwi bereits 1934 ins Ausland gegangen war. Anfang September 1939 wurde mein Vater 43jährig eingezogen. Der Stadrat Johannes Röpke wurde zur Vertretung bestimmt. Mein Vater war in einer schlesischen Division, die in Polen eingesetzt wurde, später in Frankreich, seit Herbst 1941 in Rußland (Ilmenseekessel, Kurlandkessel), Einsatz in Jugoslawien und zuletzt in der Nähe von Prag. Die Familie hatte bereits zu dieser Zeit keinerlei Nachricht mehr. Dort geriet er in amerikanische Gefangenschaft.
Das Wohnhaus des Bürgermeisters Ziegler
Fritz-Reuter-Straße 6 (Aufnahme von 1930)
Um das Leben meines Vaters auch im privaten Bereich abzurunden, möchte ich jetzt noch etwas aus meiner Kindheit in Neukalen berichten. Meine Eltern bewohnten seit Herbst 1928 das Haus in der Fritz - Reuter - Straße 6. Am 6. Februar des zu kalten Winters 1929 wurde ich in Rostock geboren. Wenn mein Vater meine Mutter in der Klinik besuchte, berichtete er, daß das Wasser in den Waschschüsseln eingefroren war. Doppelfenster gab es zur damaligen Zeit kaum. Später waren wir Kinder immer begeistert, wenn die Fenster voller Eisblumen waren. Um hinaus zu sehen, mußte man ein Guckloch hauchen. Im Säuglingsalter war mein bester Beschützer unsere Dackelhündin “Jutta”, aber erst nachdem sie zunächst ein viertel Jahr mit meiner Mutter wegen dieses Familienzuwachses gemault hatte. Später tobte sie mit meinen Spielgefährtinnen und mir um die Wette.
Die Leiterin der Kleinkinderschule
Marie Licht mit Ursula Ziegler
An Einzelheiten in der Kleinkinderschule kann ich mich kaum erinnern. Diese Kleinkinderschule wurde von der Diakonisse “Tante Marie” geleitet. Unterstützt wurde sie vom Schuhmachermeister Paul Hentschel als Hausmeister und seiner Mutter als Reinigungskraft. Genau aber erinnere ich mich wie meine Freundinnen Hella Schröder, Inge Ohde, Ursel Hilgendorf und ich viel und gerne in unserem wunderschönen Garten spielten. Wir spielten mit Puppen, bauten uns mit Decken und Laken, die an Büschen festgeklammert wurden, Wohnungen oder fuhren mit unseren Puppenwagen ins Gartsbruch, wo wir Waldmeister und Anemonen pflückten oder uns Blumenkränze flochten. Sandkasten, Schaukel und Turnreck standen uns zur Verfügung. Ballspiele, Murmelspiel, Kreisel, Trünnelreifen, Versteckspiel und Greifen gehörten zu unseren Spielen - alles Beschäftigungen, die Kinder heute kaum mehr kennen. Mein Vater und meine Mutter schalten sehr selten, wenn sie sich sicher auch oft über die zertretenen Beete ärgerten. Der Garten war von einer großen Fliederhecke umgeben. Zur Blütezeit duftete es herrlich, und die Mutter verschenkte Arme voller Flieder. Große Birken, viele Sträucher, zahlreiche Obstbäume, große Rasenflächen und reichlich Blumenrabatten sowie zwei herrliche Jasminlauben gaben dem Garten ein besonders schönes Aussehen. Alles war nach den Ideen meiner Mutter angelegt worden. Im Winter spielten wir in meinem Kinderzimmer mit Puppen, Puppenstube, Kochherd, machten Würfelspiele oder meine Mutter las uns wunderschöne Geschichten vor. Wenn Schnee gefallen war, ging es mit dem Schlitten auf den Rodelberg.
So wie für die Gestaltung des Gartens, hatte meine Mutter auch Ideen und Vorschläge für die Umbauten am Haus, denen der Eigentümer zustimmte, die Kosten aber von meinen Eltern getragen werden mußten. So wurde im Erdgeschoß eine große Nische für den Anbau einer Küche genutzt, die ehemalige Küche wurde noch ein gemütliches Wohnzimmer neben Eßzimmer und Arbeitszimmer. Im Obergeschoß entstand ein zweites großes Zimmer, welches nach der Geburt meines Bruders für uns beide als Kinderzimmer eingerichtet wurde. Ein kleineres nach Osten gelegenes Zimmer erhielt eine große Gaube. Vorher war dies mein Kinderzimmer. Alle Zimmer hatten wunderschöne Kachelöfen, die zuerst mit dicken Buchenscheiten, später mit Brikett geheizt wurden. 1937 ließ mein Vater im Erdgeschoß eine Zentralheizung installieren, die vom Keller aus beheizt wurde. Der Fußboden, durch den die Rohre führten, war noch nicht wieder abgedichtet. Der Keller, in dem der Heizkessel stand, hatte einen Abfluß zum Bach, der am Hause vorbeifloß. Durch diesen Abfluß waren Ratten ins Haus und durch die Fußbodenlöcher ins Weihnachtszimmer gekommen. Sie fraßen das Konfekt vom Tannenbaum und von den bunten Tellern.
Im Obergeschoß blieben die Öfen, und bevor wir zu Bett gingen, wurde das Oberbett am Ofen gewärmt. Eine schöne Erinnerung.
In meiner Erinnerung sind auch noch viele Wanderungen, die mit den Eltern gemacht wurden, sowohl im Winter als auch im Sommer. Es ging ins Heidal, in die Warsower Tannen oder etwa 5 km durch den Wald nach Salem und auf den Bataillenberg. In Salem wurde in Hopp´s Kaffeegarten Kuchen oder Schinkenbrot gegessen. Zeitweise fuhren wir auch mit einem Motorboot, welches dem Motorrad- und Fahrradhändler Pansow gehörte, über den Kummerower See nach Gravelotte. Dort gab es Saueraal und Bratkartoffel als Spezialität.
Einschulung von Ursula Ziegler 1935
Im April 1935 wurde ich eingeschult, mit mir Hella Schröder, jetzt verheiratete Burmeister. Der erste Klassenlehrer war Herr Robert Schmidt, danach Fräulein Marie Radöhl.
1936 im April wurde mein Bruder Peter - Georg geboren. Ich war restlos glücklich, da ich mir schon immer Geschwister gewünscht habe, und nun fühlte ich mich als große Schwester immer für ihn verantwortlich. Ganz besonders, nachdem er mit einem Jahr eine schwere Lungenentzündung überstand, danach aber eine Tuberkulose festgestellt wurde. Noch kürzlich erinnerte mich Hella Burmeister: “Weißt Du noch Ursel, daß wir Peter immer Geschichten vorlasen, damit er im Liegestuhl blieb?” Dr. Rademacher hatte vor allem Ruhe und gute Pflege verordnet, wie es ja zu dieser Zeit auch nur die Tbc - Heilstätten tun konnten, da es noch keine entsprechenden Medikamente gab. Schwierig wurde die Pflege mit Ausbruch des Krieges und damit Einführung von Lebensmittelkarten. Ich erinnere noch, daß wir von irgend jemand täglich Ziegenmilch holen konnten, da diese besonders fett war.
Seit Frühjahr 1939 besuchte ich das Gymnasium in Malchin und war wie viele andere Fahrschülerin. Der Zug fuhr gegen 7.00 Uhr aus Neukalen ab, und da der Bahnhofsvorsteher alle Fahrschüler kannte, schaute er sich erst einmal genau nach Nachzüglern um, ehe er das Abfahrtssignal gab. Wir hatten extra einen Schülerwagen, damit die übrigen Fahrgäste nicht durch uns belästigt werden. Auch wir waren zur damaligen Zeit keine Engel und unsere, nach Kriegsausbruch vorwiegend weiblichen Lehrkräfte hatten es sicher oft sehr schwer mit uns. Es waren in den Klassen zwei Drittel Schüler und ein Drittel Schülerinnen. In den strengen Kriegswintern mit Frost und reichlich Schneefällen blieb der Zug des öfteren in Schneewehen stecken, und dann mußten alle Schüler Schnee schaufeln. Diese naturgemäßen Verspätungen nahmen wir dann auch manchmal zum Anlaß, wenn eine unangenehme Klassenarbeit angekündigt war, unser Zuspätkommen in der Schule mit einer Zugverspätung zu entschuldigen. Da waren sich alle einig. 1944 wurde unsere Schule Lazarett, und wir erhielten Unterricht in einem Nebengebäude der Volksschule. In den letzten Kriegswochen wurde von den Lehrern sporadisch Unterricht in den Heimatorten der Schüler abgehalten.
Ein Erlebnis waren immer die jährlich stattfindenden Schützenfeste in Neukalen. Morgens um 7.00 Uhr war Wecken in der Stadt durch die Militärmusikkapelle Bauerfeld aus Güstrow, später wurde dann mein Vater als Schützenpatron von der Schützengarde abgeholt. Zu diesem Anlaß wurden 500 halbe Brötchen belegt und Bowle wurde angeboten. Für dieses traditionelle Frühstück erhielt der jeweilige Bürgermeister vor dem I. Weltkrieg vom Großherzog einen Zuschuß von 500 RM. Da mein Vater diese Tradition beibehalten wollte, zahlte er aus eigener Tasche. Nach Aussagen meiner Mutter war es meist das Urlaubsgeld. Nach dem Ausmarsch der Schützen fand das Königsschießen im Gartsbruch statt, wo auf dem Festplatz Bierzelte und eine Tanzfläche errichtet waren. Es gab auch ein oder zwei Karussells und Buden mit Zuckerwaren. Mir hatten es immer besonders die Gummizuckerschlangen angetan, an deren Kopf ein Fingerring befestigt war. Abends, wenn der Schützenkönig ermittelt war, hielten die Schützen mehr oder weniger schwankend Einzug vom Gartsbruch in die Stadt. Zu diesem Anlaß sollte dann auch mein Vater eine Abschlußansprache halten, was auch ihm offenbar schon schwerfiel, und so riefen dann die Schützenbrüder: “Schulting, mak de Klapp man tau und go to Bed!” Ein anderes Mal hatte meine Mutter schon zuviel Wein aus dem Schützenhumpen getrunken, ebenso ihr zehn Jahre jüngerer Bruder, der regelmäßig in seinen Ferien die Eltern besuchte. Da es Sitte war abends zum Schützeneinzug Kerzen in die Fenster zu stellen, bemühten sich beide vergeblich diese Kerzen anzuzünden, bis unsere langjährige treue Haushaltshilfe Hedwig Lüssow, später Schoknecht, dies übernahm.
Paula Ziegler (geb. 21.2.1903, gest. 11.11.1986)
mit Tochter Ursula (geb. 1929)
und Sohn Peter-Georg (geb. 1936)
Meine Mutter war ein sehr fröhlicher Mensch, die für meinen oft sehr ernsten Vater die richtige Partnerin war. So war sie auch zu allerlei Schabernack bereit. Ihr Bruder war wieder einmal zu Besuch, ebenso eine Kusine meines Vaters, die in Neukalen wohnte, Anneliese Nicolai, später verheiratete Rachow. Mein Vater war zu einer Feuerwehrsitzung im Hotel Behrens, als die Drei auf den Gedanken kamen, etwas Lustiges zu tun. Der Bruder meiner Mutter verkleidete sich mit den Sachen meiner Mutter, und schon bald waren sie auf dem Weg zum Hotel. Die Kusine und meine Mutter blieben in der Dunkelheit zurück, ihr Bruder ging ins Hotel, riß die Tür vom Sitzungszimmer auf und rief: “Gut Schlauch!” Mein Vater hatte seinen jungen Schwager gleich erkannt, trotz der Verkleidung. Später zu Hause wollte er sich vor Lachen ausschütten.
In jedem Ort gab und gibt es auch heute noch Originale, die ihre Mitbürger zum Lachen bringen konnten. So ein Original war Tede Horn, seinen richtigen Namen weiß ich nicht. Eines Tages kam er in die Fritz - Reuter - Straße: “Is de Herr Bürgermeister to Hus?” Meine Mutter antwortete: “Ne, Herr Horn, wat süll he woll?” “Ick wull mit em en betten in Wurtwessell kamen!” Er meinte, er wollte sich etwas unterhalten. Ein anderes Mal: “Hebben Fru Bürgermeister all hürt? It´s trurig.” “Ne, wat süll ick hürt hebben?” “De oll T... is storben.” “Ach, wat hett em denn fählt?” “Hei is in Gehlsheim in Geistesgegenwart storben!” 3)
Meine Eltern besuchten einmal eine Theateraufführung, die von Handwerkern aufgeführt wurde. In einer Szene hörte man zum Beispiel im Hintergrund der Bühne Klavierspiel. Der Hausherr nimmt vom Postboten Briefe entgegen und wird von diesem gefragt, wer dort so schön Klavier spiele. Darauf der stolze Vater: “Das ist meine Tochter Lieschen, sie spielt die Mondschein... Mondschein ... Mondschein ...” Eine Stimme aus dem Zuschauerraum flüstert: “Mondscheintomate”, worauf der Vater sichtlich erleichtert ruft: “Sie spielt die Mondscheintomate von Beethoven”. Meine Eltern mußten für einige Zeit hinter dem Rücken der vor ihnen Sitzenden ihre Taschentücher zum Trocknen der Lachtränen benutzen. Alle diese lustigen Begebenheiten weiß ich aber nur aus den Erzählungen meiner Eltern, die diese und noch viele andere immer mit leiser Wehmut an ihre glückliche Zeit in Neukalen viele Jahre später erzählten.
Franz Ziegler als Offizier im II. Weltkrieg
Anfang September 1939 wurde mein Vater zur Wehrmacht eingezogen. Für die Familie änderte sich während des Krieges auch vieles. 1942 wurde unsere Großmutter mütterlicherseits in Rostock ausgebombt und blieb von nun an ganz bei uns in Neukalen. Im Herbst desselben Jahres kam eine Tante aus Berlin mit ihren drei kleinen Kindern (4 Jahre und Zwillinge von 1/2 Jahr) wegen der ständigen Luftangriff zu uns. Ihre Eltern waren im gleichen Jahr auch in Rostock ausgebombt. Sie blieb eineinhalb Jahre in Neukalen und siedelte dann in ein Wochenendhaus ihrer Eltern auf dem Fischland über. Zu dieser Zeit Ende 1944 kamen bereits die ersten Flüchtlinge mit einem Treck, eine Familie aus der Rominter Heide im äußersten Ostpreußen. Ab Januar kamen bereits Flüchtlingszüge. In diesem eiskalten Winter waren sie schon wochenlang in Güterwagen unterwegs. Wir als BDM Mädchen mußten beim Ausladen helfen. Halb erfrorene Menschen, dazwischen Sterbende, Säuglinge usw. Die Eindrücke haben sich mir so eingeprägt, daß mir beim Schreiben heute noch die Tränen in den Augen stehen. Aus einem dieser Flüchtlingszüge kam ein sehr alter Herr mit drei Töchtern aus Elbing zu uns, weiter eine junge Frau mit Kind und ihren Eltern aus Stettin. In den letzten Kriegstagen kam noch die Familie eines Bauern vom Stettiner Haff. Meine Mutter stellte zusätzlich in der Waschküche noch eine sogenannte Kochhexe auf und bog damit Differenzen ab. In der Not hielten die Menschen auch viel mehr zusammen.
In den letzten Kriegswochen wurde in unserer Ziegelei das Heeresbekleidungsamt Stettin ausgelagert, und die Bewachung hatte sich in den letzten Apriltagen abgesetzt. Unter Tieffliegerbeschuß holte sich dann die Bevölkerung von dort Stoffballen (feinste Tuche), Leinen, Fallschirmseide, Leder und viele andere Dinge und transportierte diese auf Handwagen ab.
Am Abend des 30. April 1945 lag eine unheimlich Ruhe über der Stadt. Die letzten durchziehenden Soldaten waren verschwunden, und plötzlich zeigten sich in den ersten Fenstern weiße Bettlaken, bald danach in fast jedem Haus. Die Angst vor den Russen war unendlich groß, und viele Neukalener zogen sich in den Wald und den Schilfgürtel am Kummerower See zurück. Dort haben sich in dieser letzten Nacht schreckliche Dinge abgespielt, da viele Menschen selbst ihrem Leben ein Ende setzten.
Am 1. Mai 1945 morgens um 4.00 Uhr betraten die ersten Russen unser Haus, in dem sich nur noch meine Mutter, Großmutter, Bruder und ich mich befanden. Alle Flüchtlinge hatten unser Haus verlassen, da sie sich in den Dörfern sicherer glaubten. Über diese ersten Stunden, Tage und Wochen möchte und kann ich nicht berichten. Sie waren von Todesangst geprägt. Ein viertel Jahr lang sind wir nicht aus den Kleidern gekommen, da wir immer auf dem Sprung zur Flucht waren. Im Juli 1945 kamen der damalige Bürgermeister Werner Westphal und Otto Sänger, beides alte Kommunisten, zu meiner Mutter, um ihr zu sagen, daß man das Haus als Volkshaus nutzen wolle und ob sie bereit wäre Möbel zur Ausstattung dort zu lassen. Wir bekamen dann eine Wohnung in der Bahnhofstraße bei dem ehemaligen Gutspächter Stroth zugewiesen. Hier wohnten wir vier Wochen, als die gesamte Bahnhofstraße ab Ecke Fritz - Reuter - Straße von den Russen für ein Lazarett beschlagnahmt wurde. Innerhalb von zwei Stunden war zu räumen. Nachdem wir abends noch nicht wußten, wo wir bleiben sollten, wurden uns in der Post zwei Zimmer der Dienstwohnung des Postmeisters, der mit seiner Frau Selbstmord verübt hatte, zugewiesen. In die übrigen zwei Zimmer zog im Herbst 1945 ein neuer Postmeister Frehse mit seiner Frau aus Schwerin, ein arroganter Mann.
Um die Familie versorgen zu können, hatte meine Mutter eine Nähstube in der Mühlenstraße eröffnet, nachdem sie während der Feldarbeit in der Rübenernte infolge eines schweren Herzfehlers zusammengebrochen war. Ich nahm Arbeit als Helferin im Kindergarten an und entsinne mich noch der vielen Entlausungsaktionen, da bei den Kindern Kopfläuse zur Normalität gehörten. Ebenso gab es viele Kleiderläuse. Durch diese kam es zu massenhaften Erkrankungen an Flecktyphus sowie auch Diphtherie. Beide Epidemien forderten hohe Opfer, besonders bei den durch die Flucht ausgemergelten Flüchtlingen, aber auch viele Opfer bei den Einheimischen. Zu den Opfern gehörte auch die Gemeindediakonisse Schwester Agnes 4).
Im November 1945 stand eines Abends plötzlich mein Vater vor uns. Auch er hatte seit Kriegsende von uns nichts mehr gehört und sich nach Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft auf die Suche gemacht, war also über die “grüne Grenze” gekommen, als er uns bei den Verwandten in Hamburg nicht fand. In die große Freude des Wiedersehens mischte sich für meine Mutter die Sorge, was tun jetzt die Russen, hatten wir doch durch sie zahlreiche Verhöre in jeder Form hinter uns, obgleich wir auch nichts vom Vater wußten. Nun erinnerten sich einige der Kommunisten an das Ereignis während des Manövers 1937. Sie berichteten dem russischen Kommandanten hierüber, und so wurde mein Vater nur noch zweimal zum Verhör geladen und wurde nicht mehr inhaftiert.
Mein Vater war durch Hunger in der Gefangenschaft stark abgemagert, so daß er zunächst keine feste Nahrung zu sich nehmen konnte. So begannen wir mit Wasser - später mit Milchsuppen ihn aufzupäppeln. Mehl und Grieß hatte meine Mutter gegen Gardinen eingetauscht.
Mein Vater wurde nun als Waldarbeiter eingesetzt. Es mußten Eichen und Buchen im Akkord mit einer Bandsäge gefällt werden. Da diese Arbeit zu diesem Zeitpunkt für ihn noch zu schwer war, ging ich für ihn in den Wald. Als dann noch der Postverwalter bei den Behörden vorstellig wurde, daß es nicht vertretbar sei einen “ehemaligen Faschisten und Militaristen” in einer Dienstwohnung wohnen zu lassen, wurde meinem Vater dann ein Zimmer bei dem Fischer Köhne zugewiesen. Dieses war nur über einen Taubenboden zu erreichen. Diese Zuweisung war der Racheakt eines Vaters, dessen Tochter bei uns als Haushaltshilfe “lange Finger” gemacht hatte.
Durch zwei verlorene Kriege, die sein Leben nicht unwesentlich geprägt hatten, den Verlust der Existenz und nicht zuletzt diese Demütigungen war mein Vater seelisch am Ende. Zu diesem Zeitpunkt, noch in den letzten Dezembertagen des Jahres 1945 holten Verwandte ihn nach Rostock. Sie hatten eine Suppenküche eingerichtet, und dort machte mein Vater zunächst die Buchführung, später wurde er von deren Verwandten, die aus dem Sudetenland kamen, als Umschüler in deren Klavierfirma angestellt. Ende April 1946 war es auch uns möglich nach Rostock zu übersiedeln. Zunächst wurden wir von den Verwandten aufgenommen, Eltern und Bruder bei der Großmutter väterlicherseits, die Großmutter mütterlicherseits und ich bei anderen Verwandten, bis wir dann im Herbst 1946 zwei Zimmer mit Veranda zugewiesen bekamen. Die Küche war ein ehemaliges kleines Badezimmer im Keller des Hauses, jetzt mit einer Kochhexe ausgestattet. Da es hier fast immer warm war, saßen wir vorwiegend in diesem Raum um den Küchenherd versammelt. In den Stunden der Stromsperre gab uns das Feuer in der Kochhexe etwas Licht; dann erzählten wir und erinnerten uns an alte Zeiten.
Entbehrt und manchmal auch gehungert haben wir in den ersten Jahren oft, und so denken wir heute noch dankbar an die Menschen, die uns in dieser Zeit halfen, wie z.B. der Ackerbürger Krüger aus der Bahnhofstraße in Neukalen oder das Ehepaar Bohn, welches uns monatlich einmal ein Paket mit zwei Broten schickte. Dann erhielt jeder abends vor dem Schlafengehen eine Scheibe Brot extra. Einmal hatte eine Ratte die Hälfte eines Brotes gefressen; der Rest wurde abgeschnitten und hat uns trotzdem geschmeckt. Einmal fuhren mein Vater und ich auf Fahrrädern mit Hartgummibereifung von Rostock nach Neu - Panstorf bei Teterow. Hier hatte ein Kriegskamerad einen Bauernhof. Wir bekamen Mehl, Brot und Kartoffeln. Oder wir beide gingen mit dem Ziehwagen zu Fuß von Rostock nach Schwaan (40 km hin und zurück). Wir erhielten vier Zentner Kartoffeln von einem Patienten, den ich als Schwester in der Klinik gepflegt hatte. So ging auch z. B. die ganze Familie in den Wald zum Himbeeren pflücken, oder wir sammelten Korn oder Zuckerrüben, um Sirup zu kochen, auch Holz wurde in der Heide geschlagen.
1950 bekamen wir dann die erste eigene Wohnung zugewiesen. Zu dieser Zeit hatte mein Vater durch Vermittlung eines guten Bekannten eine Stelle als juristischer Mitarbeiter bei einem alten Rechtsanwalt antreten können. Dieser hatte eine Anwaltspraxis eröffnen dürfen, da er mit einer Jüdin verheiratet gewesen war und unter den Nationalsozialisten sehr gelitten hatte. Auf Grund seines hohen Alters benötigte er daher einen juristischen Mitarbeiter. Bis zum Jahre 1952 führte er seine Anwaltspraxis weiter, um dann zu seiner Tochter nach Hamburg zu übersiedeln. Mein Vater wurde von ihm beauftragt alles aufzulösen. Wieder einmal stand die Frage für ihn, was wird nun? Inzwischen war aber auch bekannt, welch großes juristisches Fachwissen er besaß und dies vor allem in seinen Schriftsätzen zur Geltung bringen konnte, während das Wort ihm weniger zu Gebote stand. War er doch gerade in den letzten Jahren immer stiller und verschlossener geworden. Nun erhielt er von einem Volkseigenen Betrieb (VEM Schiffselektrik) das Angebot die Stelle als Justitiar zu übernehmen, später kam ein weiterer Betrieb (Isolier- und Kältetechnik) hinzu und schließlich der gesamte VVB Schiffbau. Man schätzte wohl seine Arbeit, da er den Betrieb oft vor der Zahlung von Millionenbeträgen (z.B. Verzugszinsen) bewahrte, weitere Anerkennung blieb ihm versagt, ebenso blieb auch das Gehalt stets niedrig. Die Juristen waren eben nur zwangsläufig gelitten, zumal mein Vater auch kein Genosse war. Da meine Mutter gut und sparsam wirtschaftete, kamen wir auch mit dem geringen Gehalt meines Vaters aus, und ich trug mit meinem Gehalt als Krankenschwester zum Familienunterhalt bei. Für uns war entscheidend, daß wir als Familie eng zusammenhielten. Mein Bruder und auch ich konnten von dem umfangreichen Wissen unseres Vaters viel profitieren, und wir diskutierten gerne mit ihm. Meinem Bruder war es auch möglich, die Oberschule zu besuchen und 1955 das Abitur abzulegen. Dann aber war die soziale Herkunft ein Hemmschuh für die Aufnahme eines Medizinstudiums. So begann er eine Maurerlehre und wurde vom Baubetrieb an eine Bauhochschule delegiert. 1957 wurde eine schwere Herzoperation notwendig, die nur in Westberlin vorgenommen werden konnte. Meine Eltern hielten sich mit Wissen des Betriebes dort auf, wurden jedoch nach ihrer Rückkehr von der Staatssicherheit aufgesucht. Sie wurden von meinem Vater aus der Wohnung gewiesen. Wieder einmal stand von nun an die Familie im Blickfeld eines Geheimdienstes. Nach der geglückten Operation wurde dann ein Wechsel von der Bauhochschule zum Medizinstudium möglich, da schwere körperliche Belastung verboten wurde.
1955 wurde meine Tochter als erstes Enkelkind meiner Eltern geboren. Mein Vater war trotz seines ernsten Wesens ein sehr liebevoller Großvater. Er las seinem Enkelkind Geschichten vor, saß abends, wenn sie nicht einschlafen konnte, an ihrem Bett, fuhr sie im Kinderwagen spazieren und zeigte ihr später die Stätten seiner Kindheit in der Rostocker Altstadt, obgleich diese zu 60 % zerstört waren. Die Bindung meiner Eltern zu meiner Tochter wurde noch enger, als ich mit dreißig Jahren nach einer Sonderreifeprüfung noch mit dem Medizinstudium begann und nur wenig Zeit für mein Kind hatte. Sie waren es, die ihr die ersten Wege in der Schule ebneten, sie pflegten, wenn sie krank war. In diesen Jahren war es dann auch möglich in eine größere Wohnung zu ziehen, zumal unsere Großmutter bis zum 92. Lebensjahr noch bei uns wohnte. Mein Vater arbeitete noch bis zu seinem 73. Lebensjahr und ging dann in den wohlverdienten Ruhestand. Er nahm unserer Mutter kleine Besorgungsgänge ab, ging täglich mit einem neuen Hausgenossen, einem allerliebsten Pudel, spazieren, half mir im Garten, las sehr viel, wurde aber im Alter immer ruhiger und stiller, war stets zufrieden und bescheiden. Bis zu seinem Tod am 21.11.1976 war er geistig völlig klar.
In Neukalen ist er nie mehr gewesen, obwohl er in seinem Innersten immer mit Wehmut an die Zeit dort zurückdachte. Gesprochen hat er jedoch mit der Familie nie darüber.
Franz Ziegler um 1970 in Rostock
1) Nachdem der Bürgermeister Lorenz auf Antrag der Stadtverordnetenversammlung wegen Vernachlässigung seines Dienstes am 1.9.1926 seines Amtes enthoben war, übernahm für eine Übergangszeit der Stadtrat Karl Kohfeldt die Amtsgeschäfte des Bürgermeisters. Zur Bürgermeisterwahl stellten sich dann im Februar 1927 in Neukalen vor: Herr Ziegler aus Rostock, Herr Düwel aus Röbel und Herr Brunkborst aus Wesermünde. Auf der Stadtverordnetenversammlung am 7.3.1927 erfolgte die Auszählung der Stimmen. Assessor Franz Ziegler wurde mit 317 von 613 Stimmen zum Bürgermeister erwählt. Assessor Düwel bekam 83 Stimmen und Rechtsanwalt Brunkborst 201 Stimmen, 12 Stimmzettel waren ungültig.
2) Das Haus Fritz - Reuter - Straße 6 wurde 1927 vom Zimmermeister Hans Freitag (geb. 18.7.1906 in Stülow) erbaut. 1939 kaufte die Stadt für etwa 12000 RM das Haus. Heute ist Wilfried Schober der Eigentümer.
3) Gehlsheim: Universitätsnervenklinik bei Rostock.
4) Schwester Agnes Elwert (geb. 2.1.1882) verstarb am 14.11.1945 an Typhus.