Erinnerung an die letzten Kriegstage im April 1945
Irma Schoknecht, geb. Federow - 2001
Eine kleine Erzählung, eine Erinnerung an die letzten Kriegstage im April 1945, damit sowas nicht in Vergessenheit gerät!
Die "Rote Armee" kam immer näher, die Angst wurde größer; ich weiß es nicht mehr, ob wir, d. h. ich 14 Jahre, mein Bruder Karl 12 Jahre und Fritz 7 Jahre alt, es auch so empfunden haben. Mein Vater, den ich sehr gern hatte, wurde 1944 beim Rückzug auf der Krim in Sewastopol am Hafen zuletzt gesehen und als vermißt gemeldet. Meine Mutter mußte uns drei Kinder alleine ernähren und großziehen und in der Wirtschaft ihren Mann stehen. Es war sicher eine harte Zeit für sie. Wir waren viel auf fremde Hilfe angewiesen. Es wurde viel Propaganda gemacht, die Russen ermorden uns, oder wir werden mit den Zungen an den Tisch genagelt. Viele Trecks aus Ostpreußen zogen durch Neukalen.
So wurde auch ein Wagen zur Flucht fertig gemacht. Der Teppich aus der guten Stube war als Plane darüber gespannt. Einige Koffer und Kisten mit Kleidung und Lebensmittel wurden verpackt; mehr kann ich nicht dazu sagen, denn ich ging ja noch zur Schule. Viel war es sicher nicht, der Wagen konnte nicht überladen werden. Wir hatten zwar zwei gute Pferde zum Vorspannen, aber es kamen ja noch vier bzw. fünf Personen dazu und noch Futter für die Pferde. Eine Familie Röpke, gute Bekannte von uns, haben den Wagen mit meiner Mutter fertig gemacht. Bei denen auf dem Torweg stand auch der Treck. Röpkes hatten auch eine kleine Wirtschaft, und der Mann war z. Zt. ehrenamtlicher Bürgermeister. Er war gehbehindert durch eine Verwundung aus dem 1. Weltkrieg. Meine Mutter holte sich viel Rat von ihm, um überhaupt die Arbeit in der Wirtschaft zu meistern. Für die Arbeit mit den Pferden auf dem Feld wurde uns ein französischer Kriegsgefangener zugeteilt. Er war ein ordentlicher fleißiger Mann. Er aß auch bei uns am Tisch, was verboten war. Dafür wäre meine Mutter beinahe eingesperrt worden. Durch gutes Zureden des Bürgermeisters wurde es erlassen. Meine Mutter war der Meinung: "Wer mit mir arbeitet, kann auch mit mir essen!" Außerdem war ein Ukrainermädchen (Zwangsarbeiterin) mit Namen Maria bei uns. Sie war noch sehr jung und konnte kaum ein Wort deutsch. Sie schlief bei uns im Haus. Die Gefangenen mußten abends ins Lager zurück. Oft hörte ich die Maria nachts weinen, sicher hatte sie nach ihrer Heimat und den Eltern Heimweh. Bei uns hatte sie es aber gut. Ihr Kopftuch wollte sie nur nicht abnehmen, bis meine Mutter merkte, daß sie voller Läuse war und uns natürlich schon viele davon geschenkt hatte. Eine Generalreinigung begann. Meine schönen Zöpfe wurden abgeschnitten.
Ganz in unserer Nähe in der Turnhalle, heute Bürgerhaus, befand sich seit einiger Zeit das Heeresbekleidungsamt. Am 30. April wurde es geräumt, die Soldaten zogen ab. Die Bevölkerung durfte sich Stoffballen holen. Ich ja natürlich hin, einen Ballen unterm Arm und schnell nach Hause. Unsere Maria wartete schon auf mich, denn meine Mutter hatte das Mittagessen fertig. Wir hörten Fliegergebrumm und sahen wie ein Flugzeug im Tiefflug ankam. Maria zog mich am Arm in den Hausflur, und schon krachte es hinter uns. Wir lagen dann beide auf dem Hof unter dem Milchkannengestell. Es war eine Staubwolke, wir sahen nichts mehr. Es ging alles so schnell. Maria zog mich, und wir liefen durch den Stall in den Garten. Im Schuppen unter eine Drillmaschine sind wir gekrochen. Meine beiden Brüder hatten im Stall unterm Rübenschneider Schutz gefunden. Es waren schreckliche Minuten. Der Staub von vorne vom eingestürzten Haus, von der anderen Seite Rauch von den brennenden Scheunen. Dort war eine Brandbombe gefallen. Nun mußten wir das, was geschehen war, erstmal verkraften. Meine Mutter hatte einen verbrannten Fuß und lief im Garten umher. Es war der Schock, sie schrie nur. Dr. Rademacher war bald da und gab ihr eine Spritze, und sie sollte ins Bett gebracht werden. Aber wo, wenn keins mehr da ist? Unser Haus war von einer Bombe getroffen. Familie Röpke holte uns in ihr Haus. Ein Wachmann vom Heeresbekleidungsamt wollte sich von seiner Freundin verabschieden, wie die Tiefflieger kamen. Er lief in unser Haus und fand dort seinen Tod *). Was hatten wir doch für ein Glück, "das Glück zu leben"!! Das war der 30. April 1945 gegen 12.00 Uhr mittags.
Am späten Nachmittag kamen zwei Offiziere der SS zum Bürgermeister mit dem Befehl, die Stadt zu räumen. Neukalen wird verteidigt. So verließen wir die Stadt mit einem Ziehwagen voll Decken und Plane und unseren Bruder Fritz obendrauf, denn er wollte nicht laufen. Wir zogen zum Kanal. Aber weit mußten wir laufen, um einen Platz unter einer Weide zu finden. Halb Neukalen war dorthin gewandert. Am Morgen des 1. Mai gegen 5.00 Uhr kam die Nachricht, daß wir nach Hause können, Neukalen hat sich ergeben. Einige Männer hatten beim Friedhof die weiße Fahne gehißt. Die ersten russischen Soldaten wären schon in Warsow. Zu Hause, d. h. bei Familie Röpke, angekommen, waren die ersten Reiter schon da. Sie kamen mit den Pferden auf den Flur. Die älteste Tochter Gertrud und ich mußten die Pferde tränken. Nun liefen wir vor Angst erschossen zu werden, von einer Stube in die andere. Ich habe miterlebt, wie Herr Röpke sich die Pistole an die Schläfe setzte, um sich zu erschießen. Vor meinen Füßen fiel er hin, alles hat geschrien. Ein Russe kam und sagte: "Pan, warum du schießen? Wir doch nichts tun." Der Schuß war nicht tödlich, aber er war dadurch blind geworden.
Herr Sawallisch, ein anderer Nachbar und Vater meiner Schulfreundin Lotti, holte uns aus dem Wirrwarr heraus. Wir bekamen dort ein Zimmer und vor allen Dingen ein Bett zum Schlafen. Wir wohnten eine lange Zeit bei ihnen. Zu den Mahlzeiten aßen wir alle an einem Tisch. Lotti und ich wurden nun als alte Frauen verkleidet. Lange alte Kleiderschürzen mußten wir anziehen und dicke Kopftücher umbinden. Alle hatten vor Vergewaltigungen angst. Kamen Russen durch die Haustür, liefen wir - Hilde Sawallisch, meine Mutter, Lotti und ich - durch den Torweg auf die Straße. Auch da war es gefährlich. Herr und Frau Sawallisch blieben im Haus. Einmal, weiß ich noch, hat Hilde es nicht mehr geschafft, weg zu kommen. Sie wurde von einem Kommissar im Nebenzimmer vergewaltigt. Einige Zeit später kam er zurück und brachte eingewecktes Obst als Dankeschön dafür. "Nett, nicht wahr?"
Lotti und ich hatten unverschämtes Glück. Wie oft waren Russen hinter uns her und riefen: "Ihr nicks alte Frauen!" Meiner Mutter ist folgendes passiert: Sie suchte Schutz in unseren Trümmern, weil Russen hinter ihr her waren. Aber, was war da los! Hier lagen schon Russen mit Frauen. Sie lief zum Stallausgang, der Stall war einigermaßen heil geblieben. Ein Russe kam von vorne auf sie zu, den hat sie umgerannt. Er zog sein Gewehr und wollte hinterher schießen. In diesem Moment hat eine Nachbarin meine Mutter in ihren Stall gezogen und die Tür verriegelt. Der Schuß ging vorbei. Außer Atem und fix und alle war sie wieder bei uns und hat uns dieses Erlebnis erzählt. Dieser Spuk dauerte wohl zwei bis drei Tage, dann wurde die Vergewaltigung von der Besatzungsmacht verboten.
Von unserem Zimmer aus konnten wir bis zum Markt sehen. So manche Nacht haben wir beobachtet, wie Trupps durch Neukalen gejagt wurden. Oftmals waren es Viehherden, manchmal auch Menschen, wahrscheinlich Kriegsgefangene. Es wurde auch von Mongolen gesprochen. Allmählich beruhigte sich die Lage. Im Rathaus war jetzt eine russische Kommandantur. Die Kommissare sorgten für Ruhe. Junge Frauen in Neukalen wurden zur Arbeit eingeteilt. Einige mußten die Kühe, die von den Russen auf eine Weide getrieben waren, melken. Andere mußten die Wäsche für die Soldaten waschen.
Im Spätsommer zogen wir in ein kleines Häuschen neben unserem kaputten Haus. Es war notdürftig hergerichtet, denn es war auch durch die Bombe beschädigt. Nun begannen die Aufräumungsarbeiten, die unentgeldlich waren. Für den Aufbau mußte meine Mutter viele Rechnungen bezahlen, was sehr schwierig war. Fanden die Leute beim Aufräumen noch ein paar brauchbare Stücke, haben sie uns das noch geklaut; unter anderem auch den Stoffballen. Sogar unser Treck wurde geplündert. Viele Sachen hatten dann die Nachbarskinder an. Zu Weihnachten 1945 zogen wir in unser neues Haus ein.
*) Bei dem Bombenangriff am 30.4.1945 kam der Oberfeldwebel Bruno Türke (geb. am 25.8.1917 in Guben, wohnhaft in Lindenau im Erzgebirge) ums Leben.
Am 30. April 1945 fiel eine Bombe
auf das Haus Wallstraße Nr. 13 (Bildmitte)
Schulklasse 1937 mit der Lehrerin Fräulein Möller
(die Autorin des Beitrages sitzt ganz unten als 2. von links)
Die Namen (jeweils von links nach rechts):
1. Reihe (ganz unten): Hans-Joachim Kerklies, Irma Federow, Barbara Pansow, Theo Horn, Karl-Heinz Gamm, Horst Clasen, Maria Nifke, Ruth Darmer, Ilse Flachshaar, Inge Droschinski
2. Reihe: Gerda Iben, Werner Schröder, Horst Pagels, Gerhard Eickelberg, Heinz Schwarz, Traugott Born
3. Reihe: -?-, Wilma Schlundt, Horst Günter Brunn, -?-, Jutta Szymanski, Anneliese Salow, Lehrerin Frl. Möller, Gerda Sonntag, Ilse Iben, Karl-Heinz Iben, Helmut Ölstrom, Lore Soltwisch, Ingrid Richter
4. Reihe: Robert Zingelmann, Wilhelm Möller, Werner Kasten, Kurt Schmidt, Heinz Käding, Gertrud Bastian, Ilse Lange
5. Reihe (ganz oben): Harry Jens, Herbert Plagens, Lotte Sawallisch, Karla Penzlin, Helga Schröder, Alice Günther, Lieselotte Berend, Peter Schultz