Das Kriegsende 1945
erlebt in Franzensberg bei Neukalen
Lothar Hopp
Vorgeschichte
Mein Vater Hans Hopp, geboren in Mirow / Mecklenburg als Sohn des Müllermeisters Heinrich Hopp, heiratete 1926 meine Mutter Martha geb. Lutz, geboren in der Nähe von Treuburg in Ostpreußen. Das Ehepaar lebte in verschiedenen Orten in Pommern und schließlich in Marienwerder in Westpreußen. Nachdem eine ältere Schwester verstorben war, wurde ich dort im Jahr 1935 geboren 1). Es folgten im Jahre 1938 meine beiden Zwillingsschwestern Ingeborg und Renate 2). Im gleichen Jahr wurde mein Vater nach Danzig als Leiter des Vermessungs- und Katasterwesens versetzt. Obwohl ich erst 3 Jahre alt war, kann ich mich noch an die Straßenbahnfahrt vom Danziger Hauptbahnhof nach Danzig-Oliva, dem neuen Wohnort erinnern, weil mein Vater mir während der Fahrt das Straßenbahndepot in Danzig-Langfuhr zeigte. Zwei unterschiedliche Kindergärten habe ich besucht und erinnere mich noch gerne an den vom Roten Kreuz geführten.
Am 1. September 1939 bin ich in der Nacht von einem ungeheuren Donnern aufgewacht, habe große Angst bekommen und bin zu meinen Eltern ins Schlafzimmer gelaufen. Ursache für das Getöse war die Beschießung der polnischen Garnison und des Munitionsdepots auf der in der Weichselmündung gelegenen Insel Westerplatte durch das Marineschulschiff „Schleswig Holstein“. Damit begann Deutschland den Krieg mit Polen.
Eingeschult worden bin ich am 1. September 1942. Anlässlich des Empfangs der neuen Schüler mit Eltern und Verwandten gab es in der Aula der Schule einige Filme zu sehen. Erinnern kann ich mich an einen Film mit einem Einhorn, ein anderer verglich das Leben einer Stadtmaus mit dem einer Landmaus und ich meine auch etwas über die sieben Schwaben an einem Spieß gesehen zu haben. Danach ging es auf den Schulhof, der sich an einem Waldrand befand. Dort stand vor uns auf einem Erdhügel ein korpulenter Mann in brauner Parteiuniform und sprach von Pünktlichkeit und Sauberkeit, sicherlich auch noch von einigem anderen, was von Eltern und Schülern erwartet wurde. Bereits in der zweiten Klasse sind Kriegsgeschichten als Lesestoff verwendet worden.
Da im Laufe des Krieges die Alliierten mit Bombenangriffen begannen, wurden wir von der Klassenlehrerin über die Sirenensignale und entsprechende Verhaltensweisen instruiert. Schutzräume entlang des Schulwegs wurden bezeichnet, und es wurde darauf hingewiesen kein Flugblatt oder abgeworfenes Spielzeug anzufassen. Die Luftalarme wurden häufiger und das durch Mark und Bein gehende Geheul der Sirenen riss meine Schwestern und mich jedes Mal aus dem Schlaf. Die Aufregung der Eltern übertrug sich auf uns und zitternd wurden wir, warm angezogen, vom zweiten Stockwerk in den Keller gebracht. Diese Alarme erfolgten immer dann, wenn sich die Bomberflotten von England aus in Richtung Dänemark auf den Weg machten. In den meisten Fällen drehten sie dann in Richtung Hamburg, Bremen, Ruhrgebiet und Berlin ab, selten war Danzig direkt betroffen. Für die Kinder im Hause waren Stockbetten aufgestellt worden, die Erwachsenen saßen auf Stühlen und besprachen die Situation. Mein Vater war zum Luftschutz eingeteilt worden und musste die Zeit, die wir im Keller verbrachten, auf dem Boden Feuerwache halten. Ausgerüstet mit einem gefüllten Wassereimer, einer Feuerpatsche und einer kleinen handbetriebenen Spritze musste er Wache halten, um eventuell eingeschlagene Phosphor-Brandbomben unschädlich zu machen.
Eines Tages im Herbst des Jahres 1944 hatte ich den Auftrag, den uns drei Kindern zustehenden dreiviertel Liter Magermilch auf Marken vom Milchhändler zu holen. Der Laden befand sich an der Durchgangsstraße von Danzig über Oliva, Zoppot nach Gotenhafen und weiter nach Pommern. Dort war ein endloser Zug von Flüchtlingen aus Ostpreußen in Richtung Westen unterwegs. Pferdefuhrwerke beladen mit Habseligkeiten und oben drauf sitzend Kinder und alte Leute, Handwagen gezogen von Menschen und ebenfalls beladen mit Kranken oder Kindern und deren Habseligkeiten. Frauen, die Kinderwagen schoben. An jedem weiteren Tag dasselbe Bild. Das war für mich als achtjährigem Kind ein bedrückender Anblick. Um das Gesehene in Verbindung mit der eigenen Zukunft verknüpfen zu können, fehlten mir Phantasie und Kenntnisse zur verstandesmäßigen Einordnung dieser Situation.
Da die Ostfront durch den Rückzug der deutschen Wehrmacht sich schnell näherte, wurden in den Straßen alle Bäume gefällt, deren Stämme für die Errichtung von Verteidigungsanlagen (Schützengräben) abgefahren wurden. Von den zurück gelassenen Ästen habe ich solche Äste, soweit ich in der Lage war sie zu befördern, nach Hause getragen mit dem Gedanken, damit im Winter heizen zu können.
Nach den Ferien, am 1. September 1944 bin ich in die dritte Klasse der Schule gegangen. Es war wohl im November, das Leben geriet aus allen Fugen. Die Luftwarnungen häuften sich und der Schulbesuch fiel aus. Im Oktober ist mein Vater zum Volkssturm einberufen worden, und es stellte sich die Frage, wohin sollten wir auf die Flucht gehen. Zwei Ziele wurden von den Eltern ins Auge gefasst: Sparsee-Mühle bei Neustettin in Pommern, dort lebte die 18 Jahre ältere Schwester meiner Mutter oder Franzensberg bei Neukalen in Mecklenburg, wo die Eltern meines Vaters lebten 3). Aus Sparsee erfuhren wir telefonisch, dass dort bereits viele Verwandte aus Ostpreußen mit den Flüchtlingstrecks eingetroffen waren und für uns kein Platz mehr verfügbar war. Also wurde beschlossen in Richtung Franzensberg zu fliehen und sich dort mit dem Vater zu treffen, falls wir durch die zu erwartenden Kriegsereignisse voneinander getrennt werden würden. Es wurden also wichtige Dokumente, Fotos, Wäsche und Kleidung sowie einige Gegenstände in zwei Holzkisten verpackt und per Bahn-Fracht auf den Weg nach Neukalen gebracht.
Im Dezember 1944 erhielten wir einen Bescheid, dass wir uns nach Erhalt einer weiteren Benachrichtigung in Gotenhafen, etwa 25 km nördlich von Danzig gelegen, einfinden sollten, um mit der „Wilhelm Gustloff“, einem „Kraft durch Freude (KdF)“ - Passagierschiff, in den Westen Deutschlands befördert zu werden. Mein Vater kam eines Tages von seiner Volkssturm-Einheit in die Wohnung zu uns, um sich einiges an Wäsche und Hygieneartikel zu holen, die wohl für den Volkssturm als Nachschub nicht vorgesehen waren. Da platzte eine weitere Nachricht aus Gotenhafen per Telefon herein, die uns darüber unterrichtete, dass die „Wilhelm Gustloff“ bereits überfüllt sei, wir nicht an Bord kommen könnten und später telefonisch von einer anderen Fluchtmöglichkeit unterrichtet werden würden. Da mein Vater bereits die Wohnung in Richtung der Straßenbahnhaltestelle verlassen hatte, bin ich mit Filzhausschuhen bekleidet durch den hohen Schnee hinter ihm hergelaufen und konnte ihm diese Hoffnung bringende Nachricht noch übermitteln.
Nach dem Ende des Krieges ist uns erst klar geworden, dass diese Abweisung uns das Leben gerettet hat. Denn die „Wilhelm Gustloff“ ist kurz vor dem Auslaufen unseres Schiffes, der „Tanga“, von einem russischen U-Boot torpediert worden und gesunken.
Das allernotwendigste wurde in einen Koffer und eine Tasche gepackt und wir Kinder hatten einige Schulbücher in unsere kleinen Rucksäcke verstaut. So erwarteten wir sehnlichst den versprochenen telefonischen Bescheid für eine Fluchtmöglichkeit.
Im Laufe des Tages, am 27.01.1945, wurden wir telefonisch angewiesen, uns um 18:00 Uhr an der Straße von Gotenhafen über Zoppot nach Danzig, damals „Adolf Hitler Straße“ genannt, Ecke Gneisenaustraße in Oliva einzufinden und dort auf einen Bustransport zu warten.
Die Flucht beginnt.
Gegen 17:00 Uhr verließen wir die Wohnung zusammen mit unserem Pflichtjahrmädchen Ilse Jordan, packten unser kleines Reisegepäck auf einen Schlitten, zogen zum Nachbarhaus und trafen dort auf Frau Pflüger, die ihr gerade geborenes Kind auf dem Arm trug. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zum genannten Abholpunkt an der Durchgangsstraße. Ein kurzes Stück bevor wir dort ankamen, fiel die Handtasche der Frau Pflüger vom Schlitten und aus dieser rutschte eine Pistole in den Schnee. Auf die Frage meiner Mutter wozu sie diese Pistole mitführe, antwortete Frau Pflüger, mit dieser Pistole würde sie ihr Baby und sich erschießen, bevor sie in die Hände der Russen fallen könnte. Außerdem hätte sie auch genügend Patronen dabei, die für uns alle reichen würden.
An Bord des Schiffes TANGA
Der Bus hielt auf der Pier von Neufahrwasser direkt neben einem großen Frachtschiff. Wir Businsassen wurden von Besatzungsmitgliedern oder Marinesoldaten über eine sehr breite Gangway an Bord geleitet und dort zu einer Holztreppe, die in den Schiffsbauch hinabführte. Dabei handelte es sich um einen Schiffsladeraum, an dessen Außenwänden sich aus Holz gezimmerte zweistöckige Stellagen befanden. Die Liegeplätze auf den in der Nähe des Niedergangs befindlichen Stellagen waren bereits besetzt als wir erschienen, sodass wir weiter nach Platz für 6 Personen suchen mussten. Schließlich wurden wir fündig und kletterten auf eine noch nicht belegte Stelle der oberen Ebene und verbrachten dort die erste Nacht.
Am nächsten Morgen bin ich den Niedergang hinauf an Deck gegangen, um meine Neugier zu befriedigen. Es war lausig kalt. In der Nacht herrschten Temperaturen um -15 Grad und tagsüber war es nicht viel besser. An der Reling stehend konnte ich beobachten, wie laufend weitere Flüchtlinge eintrafen und an Bord geführt wurden. LKWs hielten am Liegeplatz des Schiffes und lieferten Verpflegungsmittel an. Beispielsweise entluden russische Kriegsgefangene unter Aufsicht von mit Gewehren im Anschlag haltenden deutschen Soldaten einen LKW, der ausschließlich Brot geladen hatte. Sie mussten die Brote ins Ladegeschirr packen. Dabei konnte ich beobachten, dass ein russischer Gefangener versuchte, ins Hafenbecken gefallenes Brot zu ergattern. Sofort drohten die Soldaten mit ihren Schusswaffen und schrien den Gefangenen an. Er sollte seine Ladearbeit wieder aufnehmen. Das aus dem Wasser geholte Brot musste er sofort wegwerfen. Dass man die Gefangenen durch Mangelernährung langsam verhungern ließ, habe ich erst nach dem Kriegsende erfahren.
Bereits als Zweitklässler habe ich erfahren, dass man für Kriegsgefangene nichts tun dürfe. Auf dem Heimweg von der Schule kam ich eines Tages an einem Bautrupp vorbei, der an den Gleisen der Straßenbahn arbeitete und blieb dort stehen, weil mich die Arbeit an den Gleisen interessierte. Die Arbeiter trugen zivile Arbeitskleidung, waren aber wohl französische Kriegsgefangene. Einer von ihnen sprach mich an, ob ich ihm ein Entwurmungsmittel aus der Apotheke holen würde. Von meinen Eltern zur Hilfsbereitschaft erzogen nahm ich das Geld, ging in die in der Nähe befindliche Apotheke und fragte nach dem Entwurmungsmittel. Der Apotheker sah mich streng an und fragte mich, wer mich beauftragt habe das Mittel zu kaufen. Von den Eltern zur Ehrlichkeit erzogen, erklärte ich, das Mittel sei für einen Arbeiter, der die Straßenbahngleise reparierte. Daraufhin hielt mir der Apotheker eine Standpauke, aus der ich nur vernahm, etwas sehr schlechtes getan zu haben. Er würde meinen Vater davon informieren. Ich erhielt nicht das gewünschte Mittel und erklärte das dem Gefangenen. Zuhause habe ich mich dann meinem Vater offenbart, der mir dann wohl erklärte, dass man im vorliegenden Fall keine Hilfe leisten dürfe. Geschimpft hat er jedenfalls nicht mit mir.
An Deck fiel mir eine Schlange von etwa 50 Personen, Frauen, Männer und Kinder auf, die vor einem Metallschott standen und warteten. Auf meine Frage worauf dort gewartet werde, erfuhr ich, dass dies die einzige funktionsfähige Toilette sei. Wegen des herrschenden starken Frosts waren wohl andere Toiletten eingefroren und außer Betrieb. Manchmal verließ eine Person die Schlange weil sie dem inneren Druck von Blase und Därmen nicht mehr standhalten konnte. Wie diese Personen ihr Problem anderweitig lösen konnten, habe ich nicht erfahren. Jedenfalls hat die Schiffsleitung das Problem schnell erkannt und zu seiner Lösung den Schiffszimmermann und dessen Hilfskräfte beauftragt eine provisorische Abortanlage an der dem Hafenbecken zugewandten Seite der Schiffsreling zu zimmern. Dort rutschten dann die Exkremente über eine schiefe Ebene in das Hafenbecken. Ich habe keinerlei Erinnerung, ob und wie ich meine „kleinen“ und „großen“ Geschäfte währen der 14 Tage an Bord erledigt habe. In Erinnerung ist mir ein riesiger Holzbottich, der sich in unmittelbarer Nähe der an Deck führenden Holztreppe befand. In diesem landeten alle Abfälle und Exkremente sowie Erbrochenes, das jeweils mit einer Schicht Kalk bestreut wurde.
Nachdem ein Versuch der Schiffsleitung die an Bord befindlichen Flüchtlinge auf der dänischen Insel Bornholm anzulanden von dänischen Widerstandskräften verhindert worden war, wurde Swinemünde angelaufen, um Kranke sowie Verstorbene von Bord zu bringen und dringend benötigten Proviant zu übernehmen. Nach 10tägiger Irrfahrt über die Ostsee mit Ausfall der Hauptmaschine sowie dem Verlust der gesamten Decksladung bei starkem Sturm ist MS TANGA am 11. Februar 1945 in Warnemünde gegen Mittag eingelaufen. 14 Tage waren vergangen seit wir in Danzig an Bord gegangen waren. An der Pier stand ein Personenzug bereit, in den wir eingestiegen sind. Ziel dieses Transportzuges war Schleswig Holstein.
Eintreffen in Rostock
Nachdem die Dunkelheit eingesetzt hatte, setzte sich der Transportzug in Richtung Rostock Hauptbahnhof in Bewegung, blieb jedoch nach kurzer Zeit auf freier Strecke stehen. Ursache für diesen Stopp war wohl ein in der Nähe stattfindender Angriff alliierter Luftstreitkräfte. Kurz vor Mitternacht hielt der Zug dann im Hauptbahnhof von Rostock. Diesen Halt nutzte unsere Mutter, um uns Kinder aus dem Zug zu befördern. Unsere Eltern hatten vereinbart, Franzensberg soll der Treffpunkt für das erhoffte Wiedersehens sein. Von Rostock aus wollten wir mit der Bahn nach Malchin fahren, um dann weiter zu den in Franzensberg lebenden Eltern unseres Vaters zu gelangen. Nach lautstarker Diskussion mit der Transportleitung ließ man uns ziehen. Zwei Hitlerjungen, die am Bahnhof ihren Dienst versahen, versuchten dann, uns mit unserem Handgepäck unter Benutzung eines der hochbordigen Gepäckwagen des Bahnhofs, zur Adresse der Schwester unseres Vaters, Agnes Hopp, die in der Karlstraße ein kleines Geschäft betrieb, zu begleiten. Dies gestaltete sich jedoch als große Schwierigkeit. Es war stockdunkel. Taschenlampen gab es wohl für zivile Anwendungen nicht mehr und links und rechts des Weges lagen Trümmer, was die Orientierung sehr erschwerte. Einer der beiden Jungs ging dann von Zeit zu Zeit an den Straßenrand, zündete ein Streichholz an, um irgendwo den Straßennamen zu entdecken. Nachdem dieser gefunden war, ging die Suche nach der Hausnummer auf die gleiche Art weiter. Etwa eine Stunde nach Mitternacht hatten wir das Ziel erreicht und unsere Freude war riesengroß, als nach dem Klopfen ans Fenster im Parterre des Hauses Kurze Straße 7 unsere Tante im Nachthemd, mit Mütze auf dem Kopf auf die Straße trat und uns in Empfang nahm.
In den folgenden 8 Tagen konnten wir uns von den durchlebten Strapazen erholen. Tante Anni überließ uns ihren Schlafraum, der ein Bett und einen Liegestuhl enthielt. Im Bett schlief unsere Mutter zusammen mit meinen beiden Schwestern. Meine Bettstatt war der Liegestuhl. Wenn in der Nacht die Sirenen Luftalarm signalisierten, ging unsere Mutter mit meinen beiden Schwestern in einen Luftschutzbunker, während ich, geschwächt von einer starken Erkältung, in meinem als Bett dienenden Liegestuhl zurückbleiben durfte. Unsere Tante hatte sich ein Notlager in ihrem Geschäft hergerichtet.
Wir ausgehungerten und auf der Flucht befindlichen Verwandten waren sicherlich eine sehr große Belastung für unsere Tante. Dafür, dass sie uns, unter Einschränkung ihrer bereits bisher schon sehr eingeschränkten Lebensverhältnisse, Obdach gewährte und uns mit Essen und Trinken versorgte, waren wir ihr sehr dankbar.
Nachdem sich unser gesundheitlicher Zustand gebessert hatte, ging es wieder zum Bahnhof, um unserem Ziel, die Großeltern in Franzensberg zu erreichen, näher zu kommen. Die Bahnfahrt endete in Malchin, wo uns der Großvater mit einem pferdebespannten Wagen erwartete.
Ankunft in Franzensberg
Großvater begrüßte uns vor dem Bahnhofsgebäude. Er kannte unsere Mutter seit seiner Feier der Goldenen Hochzeit, an der unsere Eltern teilgenommen hatten. Für uns Kinder war er ein Fremder, an den wir uns anzunähern versuchten.
Die Fahrt führte über den Damm nach Pisede und von dort auf der Kreisstrasse, der Chaussee in Richtung Neukalen, an Gülitz und der Einfahrt zum Forsthaus Franzensberg vorbei, bis auf der höchsten Erhebung links ein Waldweg abzweigte. Von diesem bog wiederum kurz danach ein kurzer Hohlweg durch den Wald ab, nach dessen Verlassen die Gebäude der Büdnerei Nr. 2 in Franzensberg in Sicht kamen. Wir hatten unser Fluchtziel erreicht.
Im Laufe der Begrüßung lernten wir Kinder nun unsere Großmutter, die Tante Emma, Ehefrau des Bruders Franz 4) unseres Vaters, sowie deren Kinder Evi und Hanning kennen. Dem dort als gefangenen Zivilarbeiter aus der Ukraine eingewiesenen Ukrainer begegneten wir erst später. Onkel Franz war eingezogen als Soldat der Luftwaffe und daher abwesend.
Als erstes wurde unsere Unterbringung geregelt. Für unsere Mutter und meine beiden Schwestern Inge und Renate standen in einer Kammer in der Größe von etwa 2 x 5 m mit zwei Betten, ein kleiner Tisch und ein Stuhl zur Verfügung. Ich erhielt das Sofa im Schlafzimmer der Großeltern (ein ehemaliger Klassenraum) als Schlafstatt hergerichtet.
Die Lebensverhältnisse in der Großstadt Danzig unterschieden sich gewaltig von den Verhältnissen in Franzensberg, an die wir uns nun zu gewöhnen hatten. Sehr einschneidend war, dass es keinen elektrischen Strom gab. Die Folge war, dass jegliche Verrichtung möglichst bei Tageslicht zu erledigen war und zwar als Handarbeit. Vom Wasser holen, das mit einer riesigen und sehr schwer zu betätigenden Handpumpe aus sehr großer Tiefe zutage gefördert werden musste und anschließend über eine Entfernung von ca. 60 m in die Küche zu tragen war. Das Zentrifugieren der für den Eigenverbrauch bestimmten Milch und das Buttern der Sahne geschahen per Hand. Der Kochbereich in der Küche machte den Eindruck einer Schmiede. Unter einer riesigen tiefschwarzen Esse befand sich ein entsprechend großer, mit Holz oder Torf beheizter Herd, an dem Großmutter bis auf eine kurze Nachmittagspause den ganzen lieben Tag lang beschäftigt war. Wie mein Vater, so habe auch ich wohl ihre Liebe zum schwarzen Tee geerbt. Morgens brühte sie sich eine Kanne dieses Getränks auf, das auf dem Herd warm gehalten wurde und trank dann über den Tag hinweg von diesem Vorrat.
Besonders gewöhnungsbedürftig war für uns ehemaligen Städter die Nutzung der Toilette. In Danzig waren wir an ein WC und Bad in der Wohnung gewöhnt und mussten hier das Wohnhaus verlassen, über den Hof zu einem in den Stall eingebauten Plumpsklo laufen. Tagsüber ganz gut machbar, aber im Dunklen beziehungsweise in der Nacht bei gutem wie schlechtem Wetter äußerst unangenehm und sehr gewöhnungsbedürftig auch wegen der aus dem Stall zu hörenden Geräuschkulisse, die von den Kühen und Schweinen verursacht wurde.
Da das Petroleum wegen der Einschränkungen durch die Mangelwirtschaft des Krieges sehr knapp war, ist bei Dunkelwerden nur eine größere Petroleumlampe auf dem großen Tisch im Wohnzimmer (dem 2. Klassenzimmer der ehemaligen Schule) in Betrieb gewesen. Um diesen Tisch herum versammelten sich alle Hausbewohner. Die Frauen nähten oder stopften, es wurde über den Kriegsverlauf und die abwesenden Männer gesprochen, Geschichten erzählt, die Aufgaben des nächsten Tages besprochen. Wir kleineren Kinder hörten gespannt zu und lernten dabei manches. Wir lernten die Bedeutung eines Fidibus genannten Kienspans als Transportmittel des Feuers kennen. Zum Beispiel um eine Stalllaterne anzuzünden.
Die Neuzeit war im Hause durch ein Telefon und ein kleines Batterieradio, den Deutschen Kleinempfänger, DKE, vertreten. Telefonieren kostete Geld und wurde daher so gut wie nie gemacht. Die Forstverwaltung war wohl der häufigste Nutzer. Sie übermittelte über diese Verbindung zur Außenwelt die Arbeitsanweisungen an die beiden benachbarten Forstarbeiterfamilien Gall und Schäfer. Das Radio wurde wegen der Knappheit der Batterien täglich nur etwa eine halbe Stunde in Betrieb genommen, um die Nachrichten und den Wetterbericht für die Landwirtschaft anzuhören.
Umzug nach Malchin
Nach etwa einer Woche Aufenthalt bei den Großeltern nahm unsere Mutter Kontakt zu einem Schulkameraden unseres Vaters aus seiner Malchiner Schulzeit auf, um Unterstützung für einen Umzug nach Malchin zu erhalten. Arthur Säubert, der in der Stadtverwaltung tätig war, konnte uns eine Notunterkunft in zwei Zimmern einer Wohnung in der Blumenstraße verfügbar machen, worüber wir uns alle sehr gefreut haben, weil es nun wieder elektrisches Licht, fließendes Wasser und eine Toilette in der Wohnung gab.
Meine Mutter, besorgt wegen des Ausfalls meines Schulbesuchs, arrangierte für mich „Nachhilfe im Rechnen“ durch den Sohn Jürgen von Herrn Säubert. Mein Nachhilfe-Pate besuchte die Oberschule und war, wie wohl die meisten Schüler, Mitglied der Hitlerjugend. Bei den schriftlichen Multiplikationen konnten wir uns nicht auf seine Schreibweise einigen, da ich gelernt hatte die einzelnen Zeilen in die Gegenrichtung zu versetzen. Zur Abwechslung sind wir auf die hinter dem Haus befindliche Wiese gegangen und haben mit seinem Tesching, einem Kleinkalibergewehr, geschossen.
Als ich auf der Straße Anschluss an ortsansässige Kinder gesucht habe, stellte ich fest, dass ich viele ihrer Worte nicht verstand. Das hat mich einigermaßen ratlos gemacht und weitere Annäherungsversuche verhindert. Im Rückblick stellte dieses Erlebnis meinen Start in das Erlernen einer neuen Sprache, des Mecklenburgischen Dialekts, des Plattdeutschen, dar.
Abends kam immer eine Gruppe von Arbeitsdienst-Maiden vorbei, die eine Reihe von Pferden mit sich führte. Wo sich das Reichsarbeitsdienst-Lager befand, habe ich nicht feststellen können. Tagsüber haben sie wohl landwirtschaftliche Arbeit geleistet.
Eines Tages suchte uns ein uniformierter Soldat auf, der sich als Hans Hoppe, Vetter unseres Vaters, vorstellte und uns nach unserer geglückten Flucht aus Danzig treffen wollte. Bis zum Einzug zur Wehrmacht hat er seine Landwirtschaft in Neu Panstorf bewirtschaftet. In Anbetracht des schnellen Vorrückens der Front in Richtung Mecklenburg, sah er das nahe Ende des Krieges voraus und wollte dieses Ende natürlich überleben. Seinem Fahrbefehl wollte er weiter folgen, jedoch den Zug am Haltepunkt Hohen Mistorf verlassen und sich in der näheren Umgebung verstecken, bis der Krieg beendet sei. Da er sich hier in unmittelbarer Nähe zu seinem Zuhause befand, wo er sich mit Lebensmitteln und ziviler Kleidung versorgen konnte, sich außerdem in der Umgebung hervorragend auskannte, hoffte er der Militärpolizei, genannt die „Kettenhunde“, entgehen zu können. Seine Verhaftung hätte wahrscheinlich zu sofortiger Erschießung wegen des Tatbestands Fahnenflucht geführt.
Näherrücken der Front
und Rückkehr nach Franzensberg
Nach kurzer Zeit drangen erste Geräusche der Front bis zu uns. Wir hörten das Grollen von Explosionen, das von Tag zu Tag lauter wurde. Ein Zeichen, dass der Krieg mit seiner Front näher kam. Unsere Mutter entschloss sich daraufhin mit uns Kindern wieder zu den Großeltern nach Franzensberg zurückzukehren.
Erste Boten des Frühjahrs machten sich bemerkbar und die entsprechenden Arbeiten der Landwirtschaft begannen. Die Spargelbeete wurden gehäufelt und auf dem Acker begann die Bekämpfung von unerwünschten Kräutern. Eine uns unbekannte Tätigkeit war das Diestelstechen. Auch ich bekam solch ein Werkzeug in die Hand gedrückt und wurde durch meine Tante Emma instruiert, welche Pflanzen ich damit im Wurzelbereich zu trennen hatte.
Schulbesuch in Schlakendorf
Zwecks Hebung unseres Wissensstandes wurde ich zusammen mit meinen Schwestern nach Schlakendorf zu Lehrer Otto in die Dorfschule geschickt. In Danzig-Oliva war ich im September 1944 in die 3. Klasse versetzt worden, meine beiden Schwestern Ingeborg und Renate waren zur gleichen Zeit eingeschult worden. Nach etwa einem halben Jahr ohne Schulbesuch sollte es nun also mit unserer Schulbildung wieder aufwärts gehen.
Unsere Überraschung bei Betreten des Klassenraums war sehr groß. Die Bänke und Pulte wurden von der ersten Reihe bis zur letzten jeweils ein Stück größer, um Platz für die Schüler und Schülerinnen von der 1. bis zur letzten (8. ?) Klasse zu bieten. Meine Schwestern saßen in der ersten Reihe, ich suchte mir ein passendes Pult, das wohl für die 4. Klasse vorgesehen war.
Herr Otto legte ein besonderes Augenmerk auf die erste Bankreihe, deren Schüler ja das Schreiben von Buchstaben lernen sollten. Die älteren Schüler erhielten beispielsweise Rechenaufgaben. An viele schriftliche Aufgaben kann ich mich nicht erinnern. Für alle anwesenden Schülerinnen und Schüler gab es Heimat- und Sachkundeunterricht an Hand von aufgehängten Karten beziehungsweise Schautafeln. Erinnern kann ich mich noch an eine Tafel, die die Funktionsweise einer Wasserpumpe erklärte. Auch habe ich dabei gelernt, dass man aus einem Gefäß gefüllt mit Flüssigkeit, diese durch ansaugen mit einem Schlauch in einen tiefer gelegenen Behälter umfüllen kann.
Der Schulweg von Franzensberg nach Schlakendorf kam uns mit seinen 1,5 km unendlich lang vor. Mühselig war er auch, weil es sich um einen Feldweg handelte und leicht gruselig war der Weg durch den Düstern Sack, in dem zu befürchten war, auf Wildschweine zu treffen. Auf dem Heimweg haben wir manchmal die am Weg befindliche und nicht verschlossene Schnitterkaserne inspiziert.
Landleben wie im Mittelalter
Wir Kinder nahmen das Leben auf diesem abgelegenen Bauernhof wohl wie ein Abenteuer auf. Unsere Mutter fragte sich sicherlich, was ihre Schwiegereltern nur bewegt haben mochte, nach dem Verkauf von Windmühle und Grundstück in Mirow, sich hier anzusiedeln.
Mögliche Erklärung: Großvater, Müllermeister Heinrich Hopp, ist am 4. Januar 1866 in der Wassermühle zu Gorschendorf geboren worden. Er könnte also ab 1872 die Schule in Franzensberg besucht haben und so das Gebäude der Büdnerei Nr. 2 als Schulhaus, sowie die Umgebung kennen gelernt haben. Als er um 1919 an einer Mehlstauballergie erkrankte, verkaufte er seine Windmühle in Mirow und war durch die heraufziehende Inflation gezwungen sein Vermögen schnellstmöglich wieder in einem Sachwert anzulegen. Dies geschah durch den Erwerb der Büdnerei Nr. 2 in Franzensberg, zu der etwa 40 Morgen Ackerland, Wiesen und Wald gehörten.
Nachdem die Kriegsereignisse geendet hatten und ich älter geworden war, habe ich mir gesagt, dass es ein Leben wie im Mittelalter war; verschärft natürlich auch durch die Kriegswirtschaft und die Ereignisse der Besetzung durch die Truppen der Roten Armee.
Mein Großvater hat mir erklärt, dass er nicht genügend Geld hatte, um eine Stromleitung von Schlakendorf nach Franzensberg finanzieren zu können. Die Folge davon war, dass sehr viel Handarbeit und körperlich schwere Arbeit geleistet werden musste. Das Wasser zum Tränken des Viehs, für den Haushalt war aus großer Tiefe herauf zu pumpen. Die Pumpe war so schwergängig, dass ich als neunjähriger Junge sie nicht nutzen konnte. Das Wasser für den Haushalt wurde dann von meiner Tante oder ihrer Tochter mit einer Tracht mit zwei Eimern gleichzeitig in den in der Küche stehenden Wasserbottich befördert.
Um den Haushalt mit den benötigten Lebensmitteln und weiterem Haushaltsbedarf zu versorgen, spannte Großvater seine zwei Pferde vor den Stadtwagen und fuhr damit nach Neukalen. Als ich das erste Mal mitgenommen wurde, lernte ich den Weg über die Chaussee kennen und erfuhr, dass die Entfernung rund drei Kilometer betrug. Auf dem Kutschbock neben Großvater sitzend, erklärte er mir, wie man das Gespann nach rechts oder links lenkt und zum Anhalten bringt. Dann fragte er mich, ob ich die Namen der Bäume am Straßenrand kenne. Als Kind aus der Großstadt habe ich wegen meiner Kenntnislücken wohl ein schlechtes Bild abgegeben.
In Neukalen fuhren wir zur Molkerei, um Butter zu holen sowie Molke für die Zubereitung von Schweinefutter. Vermutlich wurden auch die Milchliefermenge, der Fettgehalt der Milch und der Stand der Finanzen besprochen. Üblicherweise wurden die Milchkannen von Franzensberg täglich mit einer zweirädrigen Karre zu einem Abholpunkt am Rand der Chaussee befördert und von dort abgeholt und zur Molkerei gebracht.
Auf dem Rückweg machten wir auf dem Markt Station und gingen zu dem dort ansässigen Friseur. Großvater ließ sich rasieren, und ich bekam einen Haarschnitt verpasst. Meine Haare wurden mit einer handbetriebenen Schneidevorrichtung gekürzt, was ziemlich unangenehm war. Diese Vorrichtung hatte wohl schon viele Jahre auf dem Buckel und war stumpf, denn sie schnitt nicht nur Haare sondern klemmte auch einige ein, die dann herausgerissen wurden. Unangenehm war auch die Kurzatmigkeit des Friseurs weil er mir dabei ständig Haarschnipsel ins Gesicht und in den Hemdkragen pustete. Das führte zu anhaltenden Juckreiz.
Es ging dann weiter zu Kaufmann Losehand, wo Großvater seinen Einkaufszettel abgab und in das Kontor gebeten wurde. Dort gab es etwas Konversation und ein oder zwei Schnäpschen zur weiteren Kundenbindung. Nachdem alles Einzukaufende in Tüten gefüllt verpackt war, machten wir uns in Richtung Chaussee auf den Heimweg.
Das Kriegsende kündigt sich an
Eines Tages beauftragte Großvater den ukrainischen Fremdarbeiter in den Wald zu fahren, um Schleete zu holen. Ich wurde mitgeschickt, um etwas behilflich zu sein. Nachdem wir die langen Hölzer geladen hatten, sagte mir der Ukrainer, dass er gerade einmal austreten müsste. Ich sollte beim Gespann warten, er würde gleich wieder kommen. Die Zeit verging, der Ukrainer kam nicht zurück, und ich überlegte, was ich nun tun müsste. Schließlich beschloss ich, das Gespann nicht ohne Aufsicht zurückzulassen, sondern die Rückfahrt alleine zu meistern. Also habe ich die Pferde den Waldweg wieder zurück zur Chaussee geführt. Da ich mir den Weg gemerkt hatte, bog ich in die Abfahrt zum nächsten Waldweg ab und brachte das Gespann sicher bis vor das Haus und holte meinen Großvater, der nun das rangieren auf dem Hof erledigen sollte. Der Großvater machte mir erregt Vorhaltungen, weil ich doch erst 9 Jahre alt war und keinerlei Erfahrung besaß, solch einen Transport zu meistern. Jedenfalls blieb der Ukrainer verschollen. Erst einige Zeit nach dem Einmarsch der Russen ist er wieder aufgetaucht.
Der Verkehr auf der Kreisstraße nahm zu. Insbesondere militärische Fahrzeuge nutzten diese Straßenverbindung aus Malchin kommend in Richtung Dargun. Ab und an kamen deutsche Soldaten ins Haus, um sich zu erfrischen. Einer von ihnen, Pfennigs mit Namen, tauschte seine Uniform gegen Zivilkleidung und blieb. Er war wohl Mitte der zwanziger Jahre alt und wurde eine große Hilfe bei der Bewirtschaftung der Landwirtschaft.
Überraschend tauchte dann ein kleiner Zirkus auf, der sich aus dem Strom militärischer Fahrzeuge heraus auf den Waldweg begeben hatte und mit seinen Tieren und Wagen dort kampieren und sich erholen wollte. Tiere und Menschen benötigten Trinkwasser und das holte man sich aus der Pumpe vom Hof. Die Wasservorräte im Brunnen gingen jedoch langsam zur Neige, und so machte sich das fahrende Volk dann wieder auf den Weg.
Militärfahrzeuge befreiten sich in diesem Zusammenbruch der Ordnung von überflüssiger Last. So fanden wir Kinder eines Tages ein 2-cm Flak-Geschütz, das am Waldweg abgestellt worden war. Das haben wir als Spielzeugkarussel benutzen können, bis es nach Einmarsch der Russen abgeschleppt worden ist.
Die Chaussee hat von Franzensberg bis Neukalen ein Gefälle von ca 80 Metern über die Entfernung von 3 km. Landwirtschaftsfahrzeuge vermieden die Überlastung der Wagenbremsen oder ihren Ausfall durch Nutzung des Sommerwegs bei bergab Fahrten. Militärfahrzeuge waren nach dem langen Kriegseinsatz oftmals stark verschlissen. So kam es zu einigen schweren Unfällen bei Bremsversagen. In einem Fall wurde ein Fahrzeug per Drahtseil von einem noch funktionsfähigen Fahrzeug geschleppt. Als die Bremsen des Abgeschleppten wegen des Gefälles versagten, wurde es schneller als der Schlepper, fuhr über das Schleppseil, kippte um und landete im Chausseegraben.
In Höhe der Ziegelei ist ebenfalls ein Fahrzeug in den Graben gefahren. Es handelte sich wohl um ein Fahrzeug für den Transport von Brückenteilen oder Wasserfahrzeugen.
Versuchte Täuschungsmaßnahme
an der Chaussee-Abfahrt
Kurz bevor die Russen ankamen hatten wohl Forstarbeiter die Chausseeabfahrten in Richtung Forsthaus Franzensberg und in Richtung Büdnerei Nr. 2 mit hölzernen Schlagbäumen als Durchfahrtsperren versehen, um die einrückenden Truppen vom Durchfahren der Wege abzuhalten. Genützt hat das nichts. Sicherlich hatten die Russen Karten, und außerdem konnten sie der Telefonleitung folgen.
Franzensberg wird Fluchtpunkt
vieler Menschen aus dem Osten
Nach dem bei uns gebliebenen Soldaten kamen weitere Flüchtlinge aus dem Osten, sogar von Ostpreußen. Ein Ehepaar war bei der Forstarbeiterfamilie Gall untergekommen, bei uns waren zwei Familien eingetroffen. Eine Frau hatte zwei Töchter bei sich, die einige Jahre älter waren als ich. Die Mädchen beschäftigten sich mit englischen Vokabeln und wollten mich teilhaben lassen.
Wenige Tage vor Eintreffen der Russen erreichte uns ein Anruf der Frachtstelle des Bahnhofs in Neukalen. Uns wurde die Ankunft von zwei Holzkisten avisiert, die im Dezember 1945 in Danzig zum Transport eingeliefert worden waren. Großvater spannte an und holte die Kisten ab. Sie enthielten Sachen von denen angenommen worden war, dass wir sie benötigen würden: Bettwäsche, Textilien, Dokumente, der Fotoapparat meines Vaters, Fotos in kleinen Alben und Negative; auch ein Elektrofön war dabei.
Meine Mutter, die 1914 als 15jährige den Einmarsch russischer Truppen in Ostpreußen, nahe der Litauischen Grenze, erlebt hatte, wusste, was nun schnellstens zu tun war. Es wurden Löcher für die Kisten im Garten ausgehoben und diese in die Erde versenkt. Von oben wurden sie mit etwas Feuchtigkeitsundurchlässigem bedeckt und dann mit Erde und Pflanzenmaterial getarnt.
Die Front naht
Großvater hatte von Großmutter den Auftrag erhalten, nach Neukalen zu fahren, um die erforderlichen Einkäufe bei Kaufmann Losehand zu machen. Bei dieser Gelegenheit sollten die beiden Kannen Milch zur Molkerei gebracht werden und von dort Butter sowie Molke für die Schweinefütterung mitgebracht werden. Als wir in der Malchiner Straße in Richtung Marktplatz fuhren, tauchte in geringer Höhe ein kleines langsam fliegendes Flugzeug auf, bei dem es vorne häufig aufblitzte. Gleichzeitig waren Geschoßeinschläge auf den Dächern zu erkennen. Großvater hatte erkannt, in welcher Gefahr wir uns befanden, trieb die beiden Pferde zu höchster Geschwindigkeit an und brachte uns unter den Bäumen zwischen der Kirche und dem Rathaus aus dem Sichtfeld der angreifenden russischen Maschine. Später habe ich erfahren, dass dieser Flugzeugtyp mit dem Namen RATA bezeichnet wurde. Auch kleine Bomben sind abgeworfen worden. Ein ausgebranntes und nicht explodiertes Exemplar entdeckte ich in der Nähe des Forsthauses Franzensberg. Der Bombenmantel bestand aus einem mit Beton ummantelten Eisendrahtgerüst welches aufgeplatzt war. Der Sprengstoffinhalt war ausgebrannt.
Ein Junge, vielleicht zwei Jahre älter als ich, tauchte an einem Nachmittag mit zwei kleineren Brüdern auf und bat um etwas zu essen. Großmutter versorgte sie, wonach der Älteste darum bat, zum Schlafen bleiben zu dürfen. Er berichtete, dass der Vater im Krieg sei und die Mutter während der Flucht verstorben ist. Ein Fluchtziel hatten sie nicht, es ging ganz einfach um das Überleben. Also wurde für die drei Kinder eine Schlafmöglichkeit auf dem Fußboden des Wohnzimmers hergerichtet. Die Erwachsenen überlegten, wie den Kindern zu helfen sei. Das Haus war mit Flüchtlingen bis an die Kapazitätsgrenze belegt. Beispielsweise gab es für unsere Mutter und uns Kinder in einer kleinen Kammer ja nur zwei Betten. Wir drei Kinder mussten uns den Platz in einem Bett teilen. Dort lagen wir wie in einer Sardinendose. Mich hat das Schicksal der drei Jungen sehr bewegt und so traurig gestimmt, dass mir die Tränen liefen. Am folgenden Tag wurde den Jungen erklärt, dass sie nicht bleiben könnten, sondern nach Neukalen gefahren würden. Dort hielt der Großvater vor einem Haus in der Bahnhofstrasse, auf der Seite der Familie des Baumeisters Lange, kurz vor dem Bahnhof. Dort war wohl eine Einrichtung der NS Frauenhilfe, die sich der verwaisten und hilflosen Jungen annahm.
Gerade war ein Ehepaar bei uns aufgetaucht, das vergeblich versucht hatte im Forsthaus Franzensberg unterzukommen. Ihr auf einem Handwagen befindliches Gepäck hatten sie dort zurückgelassen. Nun wollte der Ehemann es holen und fragte meine Mutter, ob ich ihm dabei behilflich sein dürfte. Wir nahmen den kurzen Weg über die Koppel und ein Stück durch den Wald zum Forsthaus und machten uns umgehend auf den Rückweg, diesmal über die Chaussee. Plötzlich war aus Richtung Gülitz das Rasseln von Panzerketten zu hören, gefolgt von einem Kanonenschuss. Auf der Chaussee war noch nichts zu sehen, weil das Ereignis sich hinter einer Straßenbiegung abgespielt hatte. Das hat uns so erschreckt, dass wir mit dem Handwagen von der Straße in den Wald polterten, ihn dort zurückließen und schnellstens durch den Wald zurück zur Büdnerei Nr. 2 liefen. Die Aufregung unter den vielen Menschen wie auch die Angst vor der Ungewissheit des Kommenden, der befürchteten schlechten Behandlung durch die siegreichen Truppen war sehr groß. Ich erinnerte mich noch gut an einen Bericht in der Berliner Illustrierten über die Situation nach Rückeroberung des Ortes Nemersdorf in Ostpreußen von den Truppen der Roten Armee. Die Fotos zeigten am Wegesrand liegende tote Frauen, Kinder und alte Männer. Den Frauen waren die Röcke hochgezogen bis über die Gesichter.
Die Russen marschieren ein
Am nächsten Vormittag war es soweit. Aus dem Wald näherte sich auf dem am Hause vorbeiführenden Weg eine mechanisierte Kolonne von Fahrzeugen. Auf dem Kotflügel des ersten Fahrzeugs, einem Halbkettenfahrzeug saß ein Soldat, der auf einem Akkordeon spielte. Wir standen vor der Haustür und beobachteten erleichtert, wie diese erste Einheit ohne uns zu belästigen vorbeizog.
Danach folgte wohl die Infanterie auf Panje-Fuhrwerken. Als die Soldaten bei Verlassen des Waldes das Haus erblickten, sprangen sie von ihrem Fuhrwerk, kamen im Eiltempo zum Haus gelaufen, um dort nach Beute zu suchen. Sie drangen in alle Räume ein, rissen die Schubladen und Schranktüren auf, nahmen, was sie als wertvolle Beute ansahen und flitzten aus dem Haus, ihrem Fuhrwerk hinterher. Das spielte sich über Stunden ab, solange es draußen hell war.
Unsere Mutter und wir Kinder hielten uns im Wohn- Schlafzimmer zusammen mit den Großeltern auf. Eine brennende Kerze auf dem kleinen runden Tisch hüllte den großen Raum in ein schummeriges Licht. Die wenigen Sachen, die wir bis hierher gerettet hatten, befanden sich in einem neben uns stehenden Koffer.
Ein Trupp von drei Mann kam in den Raum und forderte mit dem Ruf Uri, Uri, dem vermeintlich ersten russischen Wort das ich dadurch lernte, die Auslieferung von Armband- bzw. Taschenuhren. Dann versuchte mir einer der Soldaten unseren Koffer wegzunehmen. Ich habe geschrien und wehrte mich. Daraufhin fragte der Vorgesetzte in gebrochenem Deutsch woher wir wären. Mutter erklärte aus Danzig, worauf er antwortete, dass Danzig kaputt sei. Dann gab er seinen beiden Soldaten ein Zeichen, uns in Ruhe zu lassen und verließ mit ihnen das Haus. Unsere Habseligkeiten blieben uns in diesem Fall erhalten.
In den nächsten Tagen besserte sich die Situation nicht. Ständig tauchten die mit einer Kalaschnikow-Maschinenpistole bewaffneten Soldaten auf, um zu requirieren, was nicht niet- und nagelfest war. Eine Cousine meines Vaters aus Neu Panstorf tauchte plötzlich auf. Sie war eine sehr stattliche und kräftige Erscheinung, die in Neu Panstorf die landwirtschaftliche Arbeit der in den Krieg eingezogenen Brüder geleistet hatte. Vermutlich hatte sie sich dabei keine Freunde gemacht und es deshalb vorgezogen sicherheitshalber Unterschlupf bei ihrem Onkel, unserem Großvater zu suchen, wo sie relativ unbekannt war.
Ein Trupp von vier Russen tauchte auf, zwei von ihnen gingen in den Pferdestall und kamen mit den zwei Pferden und einem hinterherlaufenden Fohlen wieder heraus. Die Großeltern waren aus dem Haus herausgetreten und mussten erleben, dass ein Sieger in Kriegszeiten requirieren kann, was er für erforderlich hält. Der Großvater war von dem Erlebten so außer sich, dass er seinen Krückstock hob und wütend auf die Gruppe der Russen zuging. Der Truppführer rief einem der Soldaten einen Befehl zu, was diesen veranlasste, seine Maschinenpistole in Anschlag zu bringen. Großmutter ergriff darauf hin ihren Mann an einem Arm, zerrte ihn zurück und brachte ihn ins Haus. Von diesem Moment an war mein Großvater, der in seinem bis dahin 79jährigen Leben persönlich in kein Kriegsereignis verwickelt worden war, ein gebrochener Mann.
Schutzmaßnahmen
Gegen Abend vermisste ich meine Mutter und meine beiden Schwestern und fragte die Erwachsenen nach deren Verbleib. Sie beruhigten mich, die wären derzeit nicht erreichbar, würden aber am nächsten Morgen wieder da sein. Trotz der Aufregung bin ich dann eingeschlafen. Am nächsten Morgen tauchten auch alle wieder wohlbehalten auf. Sehr viel später habe ich dann erfahren, dass der bei uns gebliebene junge Soldat Verstecke für die Frauen und kleinen Kinder angelegt hatte. Er hatte an einer Stelle die Beplankung der Außenwand der Scheune entfernt, durch Herausnehmen von dort gelagertem Stroh einen Hohlraum geschaffen, in den sich die Frauen und Kinder legen mussten. Danach ist die Beplankung wieder angenagelt worden. Außerdem hat er aus Brettern und Holzstützen einen weiteren Hohlraum gezimmert, in den man hineinkriechen konnte und so liegend während der Nacht sicher war. Getarnt war das Konstrukt durch den Mist des Misthaufens hinter dem Stall unter dem sich diese Höhle befand. Die Frauen berichteten, dass sie in der Nacht Geräusche von Personen vernommen hätten, die im Stroh herumgestochert haben. Glücklicher Weise ist die Scheune nicht in Brand gesteckt worden, wie es an anderen Orten während des Vormarsches der russischen Truppen vorgekommen ist.
Der ukrainische Zivilarbeiter tauchte hoch zu Ross, einem schweren Ackerpferd auf. Er band sein Pferd am Zaun fest und ging ins Haus. Heraus kam er mit Kleidungsstücken, die er über einen Arm gelegt trug und befestigte sie an seinem Pferd. Dann kam er auf uns zu, eine Pistole in der Hand, auf der Suche nach meiner Cousine Eva mit dem Ruf, sie erschießen zu wollen. Eva war auf den Hof der Forstarbeiterfamilien geflüchtet und versuchte sich zu verstecken. Wir anwesenden Kinder haben laut geschrien und liefen hinter ihm her. Während dieser Jagerei sah ich, dass ein anderer Zivilarbeiter mit einem Fahrrad aus Schlakendorf eingetroffen war, das Fahrrad an den Zaun neben das Pferd stellte, aufstieg und mit dem Pferd so schnell wie möglich in Richtung Chaussee verschwand. Als wir unseren Ukrainer darauf hingewiesen hatten, brach dieser sofort seine Jagd nach meiner Cousine ab, lief zum Fahrrad, um von dem Pferdedieb sein vermeintliches Eigentum zurück zu erobern. Ob er erfolgreich war haben wir nicht erfahren. Evas Leben jedenfalls war gerettet.
Organisieren des Überlebens
Die Nervenbelastung für die Frauen war zu groß, um dieses gefährliche Versteckspiel lange durchhalten zu können. Es wurde beschlossen zur Vermeidung von Begegnung mit Russen, durch den Wald zur Schlakendorfer Chaussee zu gehen, dann in Richtung Neukalen, am Sägewerk 5) vorbei parallel zu den Bahngleisen zum Gartsbruch und weiter zum Gasthof Behr 6) an der Chausseestraße. Dort baten wir die Frau Behr darum bleiben zu dürfen, weil wir der Ansicht waren, dass hier im Ort Neukalen geregeltere Verhältnisse bezüglich marodierend herumziehender ehemaliger Zwangsarbeiter und russischer Soldaten herrschen würden. Schlafplätze fanden wir auf dem Fußboden eines Saales, in dem sich bereits weitere Menschen aufhielten.
Am Tage ging ich auf den Hof und konnte von dort aus in die Kegelbahn hinein gehen. Dort fand ich eine Fabrikation für Wehrmachtsuniformen vor. Ich erinnere mich an eine große Maschine, auf der Stapel von Stoffen zugeschnitten worden waren. Diese Maschine sah wie eine Bandsäge aus. Eine schwere Schere für das Zuschneiden einzelner Uniformteile fand ich dort und nahm sie mit. Außerdem fand ich einen kleinen Restballen von Uniformstoff, den ich meiner Mutter bringen wollte. Andere erwachsene Flüchtlinge, die dort herumstanden machten mir Angst vor den Russen und nahmen mir den Stoff ab. Es gab also keine neue Jacke, die mir gepasst hätte. Seit dieser Zeit hegte ich bei Forderungen oder Wünschen von fremden Erwachsenen stets eine gehörige Portion Misstrauen.
Herr Behr, der Sohn der Wirtin, als Kriegsversehrter kein Soldat mehr, sicherte die Eingangstür des Gasthauses mit Hilfe von Balken, in der Hoffnung, dass niemand werde eindringen können.
In einer Nacht sind wir durch laute Geräusche und Poltern an der Tür aufgewacht. Die Sicherheitsmaßnahme hat jedoch Stand gehalten. Tags darauf erfuhren wir, dass eine Einheit russischer Soldaten im Nachtmarsch durch den Ort geführt worden war. Noch einmal haben wir Glück gehabt.
Im Jahr 1946 ist dann in diesem Gasthof und Hotel die Typhus Station eingerichtet worden.
Am folgenden Tag haben wir die Familie des Tierarztes Dr. Dierks 7) aufgesucht. Von deren Balkon aus konnten wir beobachten, wie eine Herde von Rindern in Richtung Malchin getrieben worden ist.
Der Zusammenbruch
jeglicher Ordnung
Die Russische Besatzungsmacht liquidierte als erstes die bislang existierenden Verwaltungsstrukturen. Bürgermeister wurden abgesetzt und durch solche Personen ersetzt, von denen angenommen wurde, keine Nationalsozialisten gewesen zu sein. Vorzugsweise sollten es Personen sein, die der ehemaligen kommunistischen Partei zuneigten. Aus Neukalen erfuhren wir, dass eine kleine Gruppe solcher Personen von der russischen Ortskommandantur zusammen gesucht worden war, die ihr Arbeitsquartier im Kaffee Wiechert am Markt bekommen hatte. Das Rathaus war von der russischen Ortskommandantur besetzt worden. Erinnern kann ich mich, dass ich anlässlich eines Einkaufsversuchs in Neukalen, einige ältere Männer aus dem Kaffee Wiechert, Malchiner Straße 2, heraus kommen gesehen habe, die erste Zeitungen oder Informationsblätter der KPD verteilten.
In Schlakendorf war der Gutsarbeiter Paul Bleck zum Bürgermeister ernannt worden. Meine Mutter und wir Kinder mussten uns dort als Flüchtlinge mit dem Wohnsitz Franzensberg anmelden. Also sind wir nach Schlakendorf gewandert und haben schräg gegenüber dem Schulhaus das Haus, in dem das Ehepaar Bleck wohnte, aufgesucht. Von der Straße trat man direkt in den Wohnraum. Dieser war in dichte Rauchschwaden gehüllt. Herr und Frau Bleck saßen beide weit voneinander entfernt, beide Pfeife rauchend und hörten sich unsere Anmeldung an.
Einige Tage später erschien Herr Bleck in Franzensberg, um uns mitzuteilen, dass wir uns laut Befehl der Russen wieder auf den Weg nach Danzig zu machen hätten. In gleicher Weise wurde ein bei dem Forstarbeiter Ehepaar Gall untergekommenes Flüchtlingsehepaar aus Elbing aufgefordert, sofort wieder in den alten Heimatort zurückzukehren.
Meine Mutter erklärte dem Bürgermeister Bleck, dass wir Franzensberg nicht verlassen würden, weil wir mit unserem Vater vereinbart hätten, uns nach dem Krieg hier bei unseren Großeltern zu treffen. Unsere Rückführung nach Danzig ist glücklicherweise nicht weiter verfolgt worden.
Franzensberg wird erneut Fluchtstation, diesmal für Einheimische
Nach Eintritt der Dunkelheit tauchten Personen auf, die sich allerdings nicht im Wohnhaus aufhielten sondern die Nacht auf dem Heuboden des Stalles verbrachten und am darauffolgenden Tag sehr früh wieder verschwanden. Aus Gesprächen der Erwachsenen habe ich erfahren, dass diese Personen auf der Flucht vor den Russen waren und per Fußmarsch durch Wald und Feld Richtung Hagensruhm und weiter zum Eisenbahn-Haltepunkt Hohen Mistorf waren. Von dort konnten sie unerkannt ihre Flucht fortsetzen. Unter anderen hat auch der Tierarzt Dr. Dierks eine Nacht auf dem Heuboden verbracht. Bei den auf der Flucht vor den Russen befindlichen handelte es sich vermutlich um ehemalige exponierte Parteimitglieder der NSDAP.
Andere, wie zum Beispiel die Familie des Gärtners Schröder in Neukalen, sahen nur noch einen Ausweg für sich, den Freitod.
Eines Tages tauchte auch mein Vetter KarlHeinz Kracht mit seiner Ehefrau auf. Ihr war es gelungen, ihren Mann in den Wirren der letzten Kriegstage aus einem Lazarett bei Berlin herauszuholen. Als Soldat war er an seinen Beinen schwer verwundet worden und so konnte er nur unter großen Schmerzen sehr mühsam mit zwei Krückstöcken gehen. Für ihn war es die Rückkehr zum Startpunkt seines Lebens. Seine Mutter, Magdalene Kracht, geb. Hopp, die ein Jahr lang als Lehrerin an der Schule in Neukalen unterrichtete, hatte ihren ersten Sohn in Franzensberg zur Welt gebracht.
Da Karl-Heinz vor seiner Soldatenzeit Landwirtschaft von der Pike auf gelernt hatte, versuchte er so schnell wie möglich seine Kriegsverwundung zu überwinden. Nach kurzer Zeit kam er mit einer Krücke zurecht, und auch die zweite Krücke war bald Geschichte. Eines Tages stand ein Panjewagen, bespannt mit einem einzelnen Pferd, verlassen vor dem Haus. Auf der Ladefläche befand sich außer zweier Hände voll Patronen nichts Weiteres. Dieses Pferd wurde von Karl-Heinz sofort in den Dienst der Landwirtschaft gestellt. Dazu beschaffte er einen Ochsen, der wohl aus dem Bestand der Domäne Schlakendorf stammte. Die Fahrten mit dieser Bespannung verliefen recht eigenartig. Der Ochse bestimmte die Geschwindigkeit, und wenn er sein kleines oder großes Geschäft zu erledigen hatte, dann blieb er einfach stehen. Er ließ sich auch nicht durch den Einsatz der Peitsche des Kutschers umstimmen, seine Gangart zu verändern. Infolge der Kriegswirren im Frühjahr konnte auch die Heuernte nicht wie gewohnt eingebracht werden. Da die Russen als Vorbilder ihren Bedarf durch Requirieren deckten, beschloss der kriegserfahrene Vetter, den dringendsten Bedarf an Heu von der auf einem Feld zwischen Franzensberg und Schlakendorf befindlichen riesigen Heumiete der Domäne zu decken. Diese Miete hatte die Größe eines kleinen Hauses. Im Wagen stehend sollte ich das Heu entgegen nehmen, welches mein Vetter Karl-Heinz von oben herunterwarf. Kaum hatten wir mit dem Laden begonnen, sprang er von der Miete herunter und rief, wir müssen schnellstens in Richtung Wald flüchten, weil die Russen uns aus Schlakendorf beobachtet hatten und uns festnehmen wollten. Glücklicher Weise waren wir schnell genug im Wald verschwunden, in den die Russen nicht so gerne folgten.
Eine andere Episode ist mir noch in guter Erinnerung. Die Ackerfläche der Büdnerei bestand größtenteils aus sehr schwerem Lehmboden, der eine Bearbeitung nur bei günstigen Witterungsverhältnissen gestattete. Die Domäne Schlakendorf hatte aus diesem Grund eine große Anzahl von Ochsengespannen in ihrem Bestand, die die Bodenbearbeitung zum richtigen Zeitpunkt gestattete. Da uns ja nur ein Gespann von einem Ochsen und einem nicht sehr starken Pferd zur Verfügung stand, hatte sich Karl-Heinz bemüht, einen Traktor, einen Lanz Bulldog, für die Nacht auszuleihen, um Großvaters Acker zu pflügen. Am Abend, es war schon stockdunkel, beauftragte mich die Großmutter meinem Vetter etwas zu essen und zu trinken zu bringen. Ich machte mich also auf den Weg, folgte dem Geräusch des Dieselmotors und erblickte schließlich auch ein kleines Licht. Dort angekommen fand ich meinen Vetter vor, wie er versuchte den Trecker, der sich mit seinen Hinterrädern fast bis zur Achse in den Lehmboden eingegraben hatte, wieder flott zu bekommen.
Wir mussten schließlich unser Vorhaben aufgeben, den Motor abstellen und die Bergungsaktion auf den nächsten Tag verschieben.
Die Russen wollen
eine Treibjagd veranstalten
Eines Tages fahren die Russen mit einem Jeep bei unserem Nachbarn, dem Forstarbeiter Hans Gall vor und verlangen von ihm eine Treibjagd zu organisieren. Ich habe bei den Russen kein Jagdgewehr sehen können. Sie waren wie zu dieser Zeit üblich nur mit Maschinenpistolen bewaffnet. Wir Kinder, Horst Schäfer und ich sollten tiefer in den Wald gehen und mit Hölzern gegen Bäume schlagen und dadurch das Wild aufschrecken. So etwas hatte ich noch nicht erlebt und bekam es mit der Angst zu tun. Da mir diese Aufgabe wegen der bewaffneten Russen mit ihren Maschinenpistolen, die oftmals auch angetrunken waren, und hinter uns her gingen, zu gefährlich erschien, beschloss ich, mich schnellsten von der Truppe zu entfernen. Zur Seite abgebogen, schlich ich tiefer in den Wald und wartete eine lange Zeit, bis ich zur Büdnerei zurückgekehrt bin.
Die Russen schaffen Ordnung
nach ihren Gesichtspunkten
Unter Androhung der Todesstrafe bei Nichtbefolgung mussten Radios, Foto-Apparate, Ferngläser etc. an Sammelpunkten abgeliefert werden. Dann erschienen eines Tages Leute, die den Auftrag hatten, die Tellersätze aus den Milchzentrifugen einzusammeln, um die Selbstversorgung der Landwirte zu unterbinden. Es erschienen Beauftragte der Kommandantur, die jegliches lebende Vieh zählten und registrierten. Jeder Landwirt erhielt ein Ablieferungssoll für landwirtschaftliche Produkte, ohne Berücksichtigung der von vielen Faktoren abhängigen Anbaumöglichkeiten eines Landwirtschaftsbetriebs.
Zu allem Übel tauchten auch weiterhin häufig russische Soldaten auf, die mitnahmen, was sie gerade benötigten. Beispielsweise entdeckten sie Butter in Großmutters Speisekammer und nahmen sie mit. Auf den Hinweis des bestehenden Ablieferungssolls erklärte der Anführer, dass er einen Beschlagnahmevermerk zu Papier bringen würde, den die Großmutter dann abliefern könne.
Großmutter wird von Russen verhaftet,
weil das vorgeschriebene Soll
nicht erfüllt worden war.
Sie wurde statt des Großvaters verhaftet, weil dieser krank im Bett lag. Das Soll war wohl in irgendeiner militärischen Einrichtung für alle Landwirte gleichartig festgelegt worden. Nicht alle geforderten Sorten ließen sich aber auf dem schweren Lehmboden der Büdnerei anbauen.
Das Gefängnis war ein Keller im Neukalener Rathaus. Ihre Schwiegertochter, Emma Hopp, hat sie dort wiederholt aufgesucht und mit dem Notwendigsten versorgt. Nach einigen Wochen kam sie wieder nach Franzensberg zurück. Wir Kinder haben von ihr nichts über die ihr widerfahrene Ungerechtigkeit und Behandlung erfahren.
Erneut Schulbesuch in Schlackendorf
Ab dem Sommer 1945 begann für uns Kinder wieder der Schulbesuch in Schlakendorf bei Lehrer Otto. Der Schulweg war nun durch den Verkehr militärischer Fahrzeuge sehr ramponiert, jedoch für uns Fußgänger gut zu meistern.
An einer Stelle, wo früher Kadaver verendeter Tiere zur Abholung durch den Abdecker abgelegt worden waren, hatten die Russen Munition zusammen geführt und gesprengt. Dabei ist aber nicht alles explodiert. So suchten wir in den Resten nach für uns Interessantem. Zum Beispiel fanden wir Zusatztreibladungen für Granaten, die aus dünnen fast durchsichtigen runden Blättern bestanden, die wie Filmmaterial aussahen. Diese landeten dann einzeln im Feuer des Küchenherds und flammten dort auf. Auch 2cm-Geschosse und leere Hülsen lagen herum und wurden als Souvenirs mitgenommen. Vernünftiger Weise habe ich nicht versucht auf das Zündhütchen solch einer 2-cm Patrone zu schlagen. In eine leere Hülse füllte ich ein wenig Wasser, erhitzte es mit der Flamme einer kurzen Kerze und konnte damit den aufgesteckten Pfropfen mit kleinem Knall herausschießen.
Der Vater kehrt im September 1945
aus russischer Gefangenschaft zurück
Mein Vater ist am 27. Januar 1945 in Danzig zum Volkssturm zu einer Pionierbaukompanie eingerückt. Das war einen Tag vor dem Beginn unserer Flucht über die Ostsee nach Warnemünde. Am 8. Mai 1945 geriet er im Rahmen der Kapitulation Deutschlands auf der Halbinsel Hela in russische Kriegsgefangenschaft. Nach Aufenthalt im Kriegsgefangenenlager Deutsch-Eylau ist er am 22. August 1945 wegen seiner schlechten Gesundheit und damit Arbeitsunfähigkeit entlassen worden. Anfang September ist er in Franzensberg eingetroffen und unsere Familie war überglücklich, wieder vereint zu sein. Wir hatten unseren Vater doch sehr vermisst.
Da er sich sofort um Arbeit bemüht hat, konnte er am 26. November 1945 in Malchin eine Tätigkeit im Katasteramt des Kreises aufnehmen. Das war ein schwerer Neubeginn, musste er doch die täglichen 2 x 9 km von Franzensberg nach Malchin und zurück bei jedem Wetter zu Fuß zurücklegen. Es fehlte an wetterfester Kleidung und ordentlichem Schuhwerk und die Ernährung war auch nicht ausreichend. In Malchin konnte keine Wohnung für uns gefunden werden, also versuchte Vater eine Wohnung in Neukalen zu finden. Von dort aus bot sich die Gelegenheit, mit der Eisenbahn Malchin für den täglichen Dienst zu erreichen. Nach persönlichen Bemühungen konnte er vom Baumeister Lange in der Bahnhofstrasse eine Zusage erhalten, die jedoch von der Stadtverwaltung widerrufen wurde. Die Russen hatten inzwischen einige Häuser der Bahnhofstrasse für sich und ihre Familien mit Beschlag belegt. Das Haus der Familie Lange war davon betroffen.
Umzug nach Neukalen 1946
Auf Fürsprache der Kreisverwaltung Malchin erhielten wir dann zum 1. April 1946 die Genehmigung nach Neukalen ziehen zu dürfen. Uns wurden dort zwei Zimmer im Haus des Malermeisters Schmidt in der Chausseestrasse 8) zugewiesen. Damit begann wieder ein neuer Abschnitt in unserem Leben.
Für mich, weil ich Fräulein Radöhl kennen lernte, die in diesem Haus bereits wohnte. Sie war zuerst meine Schulersatzlehrerin, dann Religionslehrerin, und später, als der Religionsunterricht aus der Schule verbannt wurde, bereitete sie mich im Konfirmanden- Unterricht auf einen weiteren Abschnitt meines Lebens vor.
1) Lothar Hans Heinrich Hopp, geb. 14.12.1935 in Marienwerder, konfirmiert am 2.4.1950 in Neukalen, lebt heute in Siegburg.
2) Ingeborg Agnes Berta Hopp und Renate Charlotte Ida Hopp, geb. 8.3.1938 in Marienwerder.
3) Heinrich Johann Christoph Hopp, geb. 4.1.1866 in Gorschendorf, gest. 1.2.1947 in Franzensberg, Büdner und Landwirt in Franzensberg, Ehefrau: Agnes Hopp, geb. Tietz (geb. 12.8.1869 in Hamburg, gest. 26.2.1954 in Rostock).
4) Franz Hugo Max Hopp, geb. 29.6.1900 in Mirow, Müller, Heirat am 31.1.1931 in Berlin: Emma Auguste Bertha Knack, geb. 15.3.1908 in Neukalen.
5) Das Sägewerk befand sich in westlicher Richtung gegenüber dem Bahnhof.
6) Heute steht hier die katholische Kirche.
7) Tierarzt Hans-Heinrich Diercks wohnte in dem Haus Chausseestraße 52.
8) Malermeister Werner Schmidt wohnte in der Chausseestraße (heute Straße der Freundschaft) Nr. 37.
Ehemaliges Schulgebäude und spätere Büdnerei 2 in Franzensberg
(Foto von 1980).
Die Kinder von Agnes und Heinrich Hopp am 1.11.1940
(von links):
1. Magdalene Kracht, geb. Hopp, 1 Jahr Lehrerin in Neukalen;
2. Agnes Hopp, Geschäftsfrau in Rostock;
3. Franz Hopp, Müller und Landwirt in Franzensberg;
4. Paula Sodemann, geb. Hopp, Landwirtin in Dargun-Altbauhof und Glasow;
5. Hans Hopp, Vermessungsingenieur.
Lothar Hopp, Autor dieses Beitrages.