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Peenestadt Neukalen Vernetzt
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Was ich 1945 erlebte

 

Nach einem mündlichen Bericht von Frau Luise Brüdigam

 

   Hier waren damals russische Kriegsgefangene. Diese hatten ihr Lager für sich zum Übernachten in Baracken am Bahndamm (wo heute die neuen Eigenheime stehen). Sie mußten bei den Bauern arbeiten.

 

   Gustav Kabel war lange Zeit bei meinem Vater beschäftigt. Nachdem er während der Kriegszeit eingezogen wurde, mußte mein Vater ebenfalls mit Kriegsgefangenen arbeiten. Da hatten wir zuerst einen Franzosen. Er hieß Josef Tranier. Als er ein Kind, welches unglücklicherweise in die Peene gefallen war, unter eigener Lebensgefahr rettete, durfte er nach Hause zurück. Dann hatten wir wieder einen Franzosen und auch zwei, manchmal drei Russen beschäftigt.

 

   Mein Vater hatte einen großen Lagerschuppen am Güterbahnhof mit Salz, Zucker, Waschpulver usw., welches für die Kaufleute ausgefahren wurde. Er betrieb eine Spedition, hatte auch einen Möbelwagen und Traktor. Unser Vater, der den I. Weltkrieg als Soldat miterlebte, hatte folgenden Standpunkt: "Solange Krieg ist, und wir stehen uns mit der Waffe gegenüber, müssen wir ja auf die anderen schießen. Aber sobald sie als Gefangene hier sind, werden sie von mir gut behandelt."

 

   Die Gefangenen fegten die Straße, räumten auf und erledigten sonst alle Arbeiten, die anfielen. Während die Franzosen bei uns mit am Tisch aßen, durften die Russen dieses nicht. Sie wurden zentral verpflegt und sollten von den Arbeitgebern nichts zu essen erhalten. Wenn die Russen beim Straßefegen waren, dann hat meine Mutter oft Brot geschmiert, welches wir hinaus brachten. Die russischen Kriegsgefangenen hatten ja immer Hunger.

 

   Eine Russe namens Feodor - wir haben zu ihm einfach Fedder gesagt - war viel mit meiner Schwester und einer Nichte des Dr. Rademacher aus Essen, welche bei uns untergebracht war, zusammen. Er half beim Gartenumgraben und im Haus, wobei er sehr gut deutsch lernte. Das war ein sehr netter junger Mann. Er wollte nachher gar nicht mehr zurück. Er sagte: "Zurück nach Rußland? Nein, ich bleib lieber hier." Das merkten seine Kameraden. Da wurde er strafversetzt nach Malchin. Später wurde er, weil er so deutschfreundlich war, von den eigenen Kumpels mit einer Eisenstange erschlagen.

 

   Kurz bevor die Russen nach Neukalen kamen, wollte ich mit einer Freundin, deren zwei Kinder und meiner Tochter Renate, welche damals vier Jahre alt war, mit einem Offizier, der bei meiner Freundin wohnte, in Richtung Westen flüchten. Offiziere des militärischen Kleiderlagers aus Stettin, welche damals in Neukalen privat untergebracht waren, rieten uns: "Fahren Sie zur rechten Zeit weg." Auch unser Vater war dafür und sagte: "Es ist nicht so einfach, was jetzt auf uns zukommt." Die Russen waren schon in Neubrandenburg. "Wenn ihr noch wegwollt, müßt ihr euch beeilen, sonst schafft ihr es nicht mehr." Meine Eltern hatten Pferde und anderes Vieh. Das wollten sie nicht verlassen. Ein Russe aus Neukalen, er hieß Muchametto und war nach dem I. Weltkrieg hier geblieben, kam oft zu meinem Vater. Ich sagte: "Der kann doch futtern". Er wollte das auch gerne tun, aber unser Vater konnte sich nicht trennen. Er ist auch nicht mehr weggekommen.

 

   Zu dieser Zeit waren noch zwei russische Kriegsgefangene bei uns, Alex und Paris. Diese beiden haben meine Eltern sehr beschützt. Als die Frontsoldaten eintrafen, haben diese beiden Russen bei meinen Eltern gesessen und haben gesagt: "Dies Vater, dies Mutter, nix tun!" Aber das Plündern konnten sie nicht verhindern. Die russischen Soldaten holten unsere Pferde aus dem Stall, nahmen den Traktor mit Anhänger und was sonst auf dem Hof stand mit, brachen den Schuppen auf, räumten alles aus und nahmen auch den Möbelwagen mit. Sie konnten alles gebrauchen. Es wurde alles weggeschleppt. Mein Vater hat nichts retten können.

 

   Meine Schwester Karla war vor dem Eintreffen der Russen in Neukalen mit dem Fahrrad fortgefahren. Meine Freundin, ich und die Kinder fuhren am 30. April 1945 mit dem PKW los. Wir wollten versuchen, nach Schwerin zu den Eltern meiner Freundin zu gelangen. Vorher hatten wir noch ein Schwein geschlachtet. Mein Vater hatte uns Schinken, Schmalz usw. mitgegeben. Der Offizier, welcher uns fahren wollte, hatte Schwierigkeiten mit dem Auto. Es hatte lange gestanden und war nicht nachgesehen worden. Ingenieur Hilgendorf war auch schon weg. Beim Heidetal, Richtung Schönkamp, blieben wir stehen. Mehrere Offiziere und Soldaten, die an uns vorbeirannten, versuchten den Wagen anzuschieben. Es war unmöglich, er kam nicht in Gang. Da bin ich noch schnell runtergelaufen nach Schönkamp, ob Frau Mussaeus uns zum Anschleppen mit Pferden helfen könnte. Da sagte Frau Mussaeus (ich seh' sie in der Erinnerung noch alle mit dem Inspektor so verdattert im Zimmer sitzen): "Nein, nein, Sie sehen ja wie's ist. Wir können nicht weg. Fahren Sie lieber wieder zurück nach Neukalen."

 

   Wir sind aber nicht zurückgefahren. Ein Soldat versuchte, den PKW in Gang zu bekommen. Er schaffte es auch, und wir kamen damit bis kurz vor Laage. Die Kinder waren übermüdet und schliefen schon. Wir kamen auf einem Gutshof an. Da haben wir noch ein paar Stunden im Strohlager übernachtet. Das hätten wir nicht tun dürfen. Die verlorene Zeit haben wir nicht mehr aufgeholt. Als wir wieder losfahren wollten, blieb unser Auto auf der Straße vor Laage stehen. Keiner konnte helfen. Es kamen deutsche Soldaten, die uns zuriefen: "Laufen Sie schnell in das Wäldchen dort, denn wir stellen uns hier noch zum Kampf." Wir gingen mit den Kindern in das Wäldchen in eine tiefe Mulde. Plötzlich merkten wir, daß geschossen wurde. Es blühten rundherum die Veilchen. Die Kinder pflückten sie. Die wußten gar nicht, daß nun noch einmal Beschuß kam. Unsere Truppen hatten sich im anderen Wald versteckt. Wir waren mitten in das Schußfeld geraten. Da kamen auf der Straße überraschend schnell viele Panzer. Ich sagte zu meiner Freundin: "Ob das wohl Russen sind? Die haben ja alle rote Fähnchen, Teddybären und ähnliches an den Panzern." Zehn Personen aus Laage hatten sich ebenfalls in der Mulde versteckt. Die Russen kämmten das Waldstück durch. Da standen wir dann zum ersten Mal den russischen Soldaten gegenüber und hatten schreckliche Angst. Ein russischer Offizier, der gebrochen deutsch sprach, fragte, warum wir uns verstecken. "Ja, Hitler sagte, wir sollen weggehen und nicht im Hause bleiben", so etwas haben wir denen dann erzählt. Die Soldaten faßten uns gleich an die Handgelenke: "Uri, Uri." Oh Gott, dachte ich, was haben die nur für eine schreckliche Sprache! Wir dachten, daß sie vielleicht die Kinder und uns töten wurden. Da hatten wir ja nun eine große Angst Sie ließen uns auch nicht los. Der russische Offizier sagte uns, daß die Soldaten nur unsere Uhren haben wollten. Da haben wir unsere Uhren abgenommen. "So", sagte der Offizier, "der Krieg ist nun aus, gehen Sie zurück nach Hause."

 

   Unser Zuhause war weit. Die Russen hatten den PKW in Gang bekommen und waren mit allen unseren Sachen verschwunden. So gingen wir nach Laage und dort in eine Bäckerei, wo wir um eine Übernachtung mit den Kindern nachfragten. Die Bäckersleute nahmen uns auf. Inzwischen war die Stadt Laage von den Russen besetzt worden. Es herrschte viel Lärm und Betrieb auf den Straßen. Unsere Kinder waren oben in einer Kammer untergebracht und schliefen auch gleich ein. Meine Freundin und ich waren noch unten bei den Bäckersleuten. In dem Moment kamen zwei Russen in das Haus. "Oh Gott, oh Gott", sagte meine Freundin in Angst um die Kinder und ging nach oben in die Kammer, um nach ihnen zu sehen. Da folgte ihr auch schon ein Russe, machte die Tür hinter sich zu und hat sie auch nicht mehr geöffnet. Und da dachte ich, ach du meine Güte, in meiner Angst. Da war noch ein altes Ehepaar im Haus, die lagen bereits im Bett. Ich ging zu diesen beiden. Es war inzwischen vollkommen dunkel geworden. Da sagte die Frau zu mir: "Kommen Sie schnell rein. Hier sind die Russen schon im Haus, die suchen jetzt nach Frauen. Legen Sie sich da ganz unten hin, ich deck' Sie zu." Und ich bin gar nicht hervorgekommen. Mehrmals kamen Russen mit Taschenlampen in das Zimmer und haben alles abgeleuchtet. Da haben sie gesehen, daß die beiden schon so alt waren. "Hier keine Frau, keine Frau," sagten sie immer. Ich lag zu ihren Füßen, war vollkommen zugedeckt, und ich hatte immer diese Vorstellung, da ist ein Russe in die Kammer gegangen, meine Freundin war d'rin, und er hat abgeschlossen. Was wird nun? Wird er die Kinder ermorden, die Frau vergewaltigen? Das war ganz schrecklich. Die Schreie von Frauen waren zu hören. Ich hatte nur Glück, weil ich in diesem Bett lag.

 

   Gegen Morgen wurde es ruhiger in den Häusern. Ich sagte: "Ich habe keine Ruhe mehr und muß sehen, was da los ist." Im fahlen Morgenlicht sah ich, daß die Tür schon aufgeschlossen war. Und dann sah ich meine Freundin mit den beiden Kindern dort liegen. Ich dachte, die sind wohl alle tot. Keiner rührte sich. Ich ging näher heran, habe dann so gefühlt, und mit einem Mal meldete sich meine Freundin. "Ich will nicht mehr leben, ich will nicht mehr leben!" Sie war vergewaltigt worden. "Und was ist mit den Kindern?" fragte ich, "die rühren sich ja gar nicht" "Tot ist keiner", sagte meine Freundin. Dann wollte sie zum Gasherd und sich das Leben nehmen. Da lief ich schnell zu den älteren Leuten. "Helfen sie mir bloß, meine Freundin steht hier dauernd am Gashahn und dreht daran." "Oh nein, drehen Sie nicht am Gashahn." Wir hielten sie alle fest.

 

   Die alten Leute sagten zu mir: "Was wollen Sie nun unternehmen?" Ich wollte unbedingt zurück nach Neukalen. Die Russen waren weiter in Richtung Westen vorgegangen. Mein Vater hatte uns den Namen eines bekannten Spediteurs in Laage genannt, und diesen wollte ich nun aufsuchen. Die beiden alten Leute, meine Freundin und die Kinder, welche sich inzwischen angezogen hatten, gingen in den Keller und schlossen hinter sich alles ab. In dem Augenblick, als ich zur Straße hinaus wollte, kam ein Russe - so ein Mongolentyp mit Schlitzaugen - in das Haus. Er sah mich, bekam mich zu fassen und zeigte immer nach oben. Er wollte mit mir nach oben gehen. Ich sagte immer zu ihm: "Moment, Moment". Das muß er irgendwie verstanden haben. Da kam ein deutscher Soldat in Uniform herein. Der erkannte sofort die Situation. Ich fiel ihm instinktiv um den Hals und flüsterte ihm zu: "Retten Sie mich bloß." Er sagte zu mir: "Ja, wenn ich eine Waffe hätte, würde ich ihn runterschießen. Ich weiß ja, was er vorhat." Der Russe hatte dieses beobachtet, ließ meine Hand los und fragte: "Dein Mann?" Ich nickte mit dem Kopf. Da ließ er mich stehen und ging weg.

 

   Auf der Straße herrschte große Hektik. Russen und Einheimische liefen hin und her. Viele Geschäfte wurden geplündert. Der deutsche Soldat begleitete mich durch die Stadt. Auf dem Marktplatz hing ein Deutscher, den die Russen erhängt hatten, an einem Baum. Als wir den Spediteur gefunden hatten, gab dieser uns etwas zu essen. Dem Soldaten, der mich gerettet hatte und welcher aus Sachsen stammte sowie zwei weiteren Personen, einem Belgier und einem Thüringer, gab er Zivilsachen. Er bot uns auch einen Wagen an. Wir holten schnell meine Freundin und die Kinder aus dem Keller. Mit Proviant versorgt zogen wir dann mit dem Wagen zu Fuß los. Unterwegs sahen wir wie alle - Russen und Deutsche - in den Geschäften am Plündern waren.

 

   Vor uns auf der Straße gingen eine Menge zusammengetriebener Männer, die nach Neubrandenburg - Fünfeichen gebracht werden sollten. In den Dörfern, durch die wir kamen, waren die Russen besoffen und machten mit Treckfideln Musik. Spät am Nachmittag hinter Remplin sahen wir ein einziges Flammenmeer. Die Stadt Malchin brannte lichterloh. Bei Gülitz kam uns ein Russe mit dem Fahrrad entgegen. Es war Paris, den ich gut kannte. Ich fragte: "Paris, wo kommst Du her?" Er stieg ja gleich vom Fahrrad, erkannte mich und sagte zu mir: "Vater, Mutter, Gertrud alle leben." "Und wohin willst Du?" "Ich habe ein Fahrrad gefunden. Ich will sehen, ob ich nach Hause komme. Rußland sehr weit. Ja, aber ich mag da nicht mehr sein, also meine Kameraden schlecht, schlecht. Was die alle machen! Aber Alex und ich, wir beide sind bei Vater, Mutter, Gertrud geblieben. Die Pferde haben sie rausgeholt Trecker, Anhänger, Möbelwagen - alles ist weg. Ob sie nun zu Hause sind oder nicht, weiß ich nicht." Paris wollte nicht zurück nach Neukalen. Er hatte Angst vor seinen Landsleuten und war auch mit ihrem Benehmen nicht einverstanden. Nun wollte er nach Hause. Wir haben ihn und Alex nie wieder gesehen.

 

   Neukalen war inzwischen ebenfalls von den Russen besetzt. Es gab viele Vergewaltigungen der Frauen. Das war ganz schlimm. In unserem Haus wohnte damals ein Lehrer aus Elbing mit seinen drei Töchtern. Diese wurden alle drei in der Nacht, bevor wir in Neukalen ankamen, von den Russen vergewaltigt. Wir hatten oben am Haus eine Veranda. Mein Vater schob einen großen Kleiderschrank vor die Tür, so daß wir Frauen und Mädchen uns dort verstecken konnten. Am schlimmsten war es mit den Vergewaltigungen in der Hauptstraße, wenn die Russen dort durchmarschierten. Viele Menschen hielten sich versteckt. Die Kommandantur der Russen war im Rathaus untergebracht. Rund um das Rathaus war ein großer Zaun gezogen. Nur vorne war ein Eingang freigelassen, welcher bewacht wurde. Außer im Rathaus hatten die Russen sich in den Häusern der Straße zum Bahnhof niedergelassen. Wir wurden aus dem Haus verjagt, es sollte zum Hospital eingerichtet werden. Die Arzte waren meistens Juden, welche gut deutsch sprachen. Wir mußten in das Haus Krüger (später Brüterei Schulz) einziehen. Über die Straße zum Bahnhof war ein Schlagbaum angebracht (von Pötter Schulz bis nach Hopp's). Auch die anderen Häuser beim Bahnhof wurden geräumt. Im letzten großen Haus war die GPU (russische Polizei) untergebracht Hier wurden die Verhöre geführt, man hörte oft die Schreie der Geschlagenen. Die Maschinen auf der Ziegelei wurden alle demontiert.

 

   Kurz bevor die Russen in Neukalen einmarschierten, und auch danach, nahmen sich viele das Leben. Der Zieglermeister Fritz Prange erschoß seine Frau, seine Tochter und dann sich selbst. Der Postmeister Hacker erschoß seine Frau, seine beiden Töchter (16 und 18 Jahre) und sich selbst. Kaufmann Paul Glöckner erschoß seine Tochter Ursel und sich selbst. Seine Frau bemerkte dieses erst später und erhängte sich in der Gartenlaube. Stadtrat Röpke wollte sich ebenfalls erschießen. Er traf nicht richtig, blieb am Leben, war aber blind. Zimmermann Karl Burmeister erhängte sich, ebenso seine Tochter mit Ehemann und Kinder. Die Schwägerin meines Mannes, Karla Brüdigam, war in Rostock ausgebombt worden. Der Mann war bei der Marine in Kiel. Sie wohnte mit ihrer Tochter Gerda bei Gültzow's. Beide erhängten sich in den Judentannen. Insgesamt sollen sich damals 65 Personen das Leben genommen haben. Viele sind in dem Massengrab auf dem Friedhofbeigesetzt worden.

 

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