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Ruhrerkrankungen 1842

 

Bericht des Doktors Carl Willgohs über die Ruhr in Neukalen

 

 

1842 kam es in unserer Stadt zu einer großen Ruhrepidemie, die viele Todesopfer forderte und welche damals vom Doktor Carl Willgohs folgendermaßen beschrieben wurde:

 

 

"Nachdem schon seit mehreren Jahren im Herbste sich die Ruhr in unserer Gegend gezeigt hatte, namentlich in dem Dorfe Alt-Kalden im Herbste 1840 und 1841, viele Sterbefälle veranlaßt, und selbst im vorigjährigen Herbste im hiesigen Orte mehrere Einwohner befallen hatte, ohne jedoch einen zu tödten, erschien sie in diesem Sommer schon sehr früh bei uns. Im Anfange des Monats Junius wurden zwei hiesige Tagelöhner, welche beide in dem, eine Meile entlegenen Dorfe Remplin in Arbeit gestanden, an der Ruhr krank zu Hause gebracht.

 

 

Bis Mitte des Julius wurden weiter keine Ruhrfälle beobachtet; von dieser Zeit an zeigten sie sich häufiger, so daß im Laufe dieses Monats noch 7 Individum daran erkrankten und am 30sten desselben Monats der erste Sterbefall dadurch veranlaßt ward. Bis zum 12ten August erkrankten ferner 11 Personen, und es ereigneten sich mehrere Sterbefälle, indem einige Kinder der Krankheit unterlagen. Vom 12ten August an griff die Krankheit rasch um sich, täglich kamen anfangs 2 - 5 später 10 - 30 neue Erkrankungen vor, so daß bald 100 und einige täglich in ärztlicher Behandlung waren und mehrere Sterbefälle sich in 24 Stunden ereigneten. Nicht allein nur Kinder, sondern auch Greise und selbst manche in der Blüthe der Jahre wurden ein Opfer der Krankheit.

 

 

Mit dem 3ten und 4ten September schien die Krankheit ihre größte Höhe erreicht zu haben, die Anzahl der neuen Erkrankungen minderte sich täglich und die Krankheit verlor an Tödtlichkeit; von denen die nach diesen Tagen erkrankten, sind außer einigen Kindern nur noch 2 Greise gestorben. Die, welche nach dieser Zeit begraben wurden, waren meistens schon früher erkrankt. Mit Ausgang des Monats September hörte die Krankheit hier gänzlich auf. Im Kirchenbuche sind aber noch später manche als an der Ruhr gestorben bemerkt, einige davon habe ich nicht gesehen, von manchen aber weiß ich, daß sie an andern Krankheiten zu Grunde gegangen sind.

 

 

Nachdem die Krankheit hier in Abnahme war und ihre Bösartigkeit verloren hatte, breitete sie sich auch in der Nachbarschaft aus, erreichte aber dort nicht die Intensität, welche sie im hiesigen Orte hatte; so zum Beispiel erkrankten im Dorfe Schlakendorf 15 Personen an der Ruhr, von welchen nur ein Kind in dem Alter von 1/2 Jahr gestorben ist.

 

 

Die Zahl der hier an der Ruhr ärztlich behandelten, beläuft sich auf 360, davon starben 60 worunter viele Kinder in dem zartesten Alter. Viele Einwohner haben die Krankheit in so gelindem Grade gehabt, daß sie keine ärztliche Hülfe in Anspruch nahmen. Manche sind gestorben, weil sie aus Eigensinn keine Arzenei nehmen wollten, manche sahen wir erst nachdem der Todeskampf begonnen.

 

 

Der durchgehende Character dieser Epidemie war der catarrhalisch gastrische mit außerordentlicher Neigung den nervösen hutriden Character anzunehmen. Viele Fälle verliefen als einfach erethische Form, bei manchen war der gastrische Charakter mehr ausgeprägt. Wenige sah ich an der entzündlichen Form leiden. Bei allen aber, welche irgend heftig erkrankten, stand der Uebergang ins Nervöse sehr nah. Und dies ist wohl der Grund, warum man hier mit dem, in neuer Zeit so hoch gepriesenen Calomel nichts hat ausrichten können. In wenigen Fällen nur konnte man es mit gutem Gewissen anwenden und in manchen dieser Fälle schien es mir das Sinken der Kräfte und den Eintritt des nervösen Stadiums beschleunigt zu haben. In den einzelnen entzündlichen Formen wurde es auch hier mit dem günstigsten Erfolge angewandt.

 

 

Die Ursache der Bösartigkeit der Epidemie im hiesigen Orte glaube ich hauptsächlich in der Vermischung eines Sumpfmiasmas mit derjenigen Luft - Constitution, welche auch anderswo die Ruhr hervor rief, suchen zu müssen.

 

 

Neu-Kalden liegt 30 Grad 30 Minuten Oestlich, und 53 Grad 45 Minuten Nördlich in einem Thale, welches gegen Süden von einer mit Holz bewachsenen Bergkette eingeschlossen und gegen Norden ebenfalls von einer Hügelreihe begrenzt wird. Gegen Osten liegt eine Viertelmeile von der Stadt der Cummerower See, die Strecke zwischen See und Stadt besteht aus einer, mit zahlreichen Gräben durchzogenen Wiesen- und Moor - Fläche. Gegen Westen zieht sich das Thal enger zusammen, bildet aber vom Teterower See her eine unterbrochene Wiesen - Morast - und Bruchfläche. Diese ganze Niederung war im vorigen Winter bis zum Frühjahr völlig mit Wasser überflossen.

 

 

Das in den Gräben und Gruben stehen gebliebene, reichlich mit vegetabilischen Substanzen geschwängerte Wasser mußte durch die bald folgende große Hitze dem Faulungs - Proceß unterliegen; unter welchen Verhältnissen nach Berndt (Fieberlehre T. II. pagina 555.) das eigenthümliche Sumpfmiasma erzeugt wird; welches der Stadt bei dem anhaltenden Ost- oder Westwind stets in reichlichem Maaßezugeführt ward.

 

 

Da nach Berndt (a. a. 0.) das Sumpfmiasma schwerer als die atmosphärische Luft ist, so wurde eine Wechselung und eine Reinigung der Luft durch die in Süden und Norden liegende Hügelreihe verhindert. Ferner trug das Zusammenfallen der Epidemie mit den heißesten Sommertagen, welche oft mit sehr kühlen Nächten wechselten, gewiß viel zur Steigerung der Epidemie bei. Wenigstens glaubten Muäsinna und von Heuns, daß die Bösartigkeit der von ihnen beschriebenen Ruhrepidemie hauptsächlich darin ihren Grund hätte.

 

 

Auch blieben die schlechten Nahrungsmittel, welche die Mehrzahl der hiesigen Einwohner den Sommer über genossen, wohl nicht ohne Einfluß auf die Steigerung und Bösartigkeit der Krankheit. Da im Frühjahr die Kartoffel entweder aufgezehrt oder des hohen Preises wegen verkauft waren, so wurden schon frühe die unreifen und überdies mißrathenen, jungen Kartoffel zur täglichen Nahrung benutzt.

 

 

Es ist bekannt wie stark deprimirend genannte Schädlichkeiten auf das Nerven- und Blut-Leben einwirken, und daher glaube ich in diesen Verhältnissen die Ursache der Bösartigkeit und der großen Neigung der Krankheit den nervösen und fauligen Charakter anzunehmen, gefunden zu haben. Wie denn auch unter dem Zusammentreffen ähnlicher Schädlichkeiten eine ähnliche, fast noch bösartigere Ruhrepidemie Anno 1807 im hiesigen Orte geherrscht haben soll.

 

 

Zur Milderung des allgemeinen Unglücks wurden von Seiten der Behörde auf Anrathen des Herrn Kreis - Physikus Dr. Scheven die zweckmäßigsten Maßregeln getroffen, namentlich wurde auf Kosten der Armen - Casse jedem Unbemittelten freie Arzenei zugesichert, aus einem Gasthause täglich Fleischsuppe und Sehm den Bedürftigen verabreicht, einzelnen Kranken Wärterinnen besorgt und die Armenpfleger angewiesen in ihrem Bezirke nachzusehen, wo solche, der Hülfe bedürftigen Kranke zu finden seien."

 

 

Nach den Eintragungen im Kirchenbuch waren vom 30. Juli bis zum 30. September insgesamt 88 Personen an der Ruhr gestorben, davon 56 Kinder.

 

 

Das Großherzogliche Amt Dargun erließ eine Verordnung, nach welcher jeder Amtseinwohner nachdrücklich davor gewarnt wurde, in Neukalen einzukehren. Alle Hausväter waren aufgefordert, ,,ihre Familie und Dienstboten vom Genusse alles und jedes Obstes abzuhalten, auch die Erkältungen möglichst zu vermeiden zu lassen.

 

 

Durch das unermüdliche Wirken des Dr. Willgohs und mit dem Eintritt kühlerer Witterung hatten die Ruhrerkrankungen ein Ende.