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Peenestadt Neukalen Vernetzt
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Mein Kriegsende

 

Günther Brüdigam

 

 

Vorbemerkung

 

Wir wohnten in Rostock. Der Vater war im Krieg. Nachdem meine Mutter und ich einen Bombenangriff in einem Hochbunker, auf den Bomben fielen, unbeschadet überstanden hatten, beschloss meine Mutter, mit mir in einem Häuschen meiner Oma in Neukalen Zuflucht zu suchen 1). Neukalen ist ein kleines Ackerbürgerstädtchen in der Mecklenburger Schweiz, an der Peene gelegen, und in etwa 2 km Entfernung befindet sich der Kummerower See. Das kleine Haus war vermietet, aber in einer kleinen Dachkammer fanden wir Unterschlupf. Später folgten uns ebenfalls aus Rostock kommend meine Oma und meine Tante mit ihrem 10-jährigen Sohn.

Ich besuchte die 1. Klasse zunächst in einem Schulgebäude, doch nachdem es zu einem Lazarett umfunktioniert wurde, fand der Unterricht der Klassen 1 - 4 in einem Gastraum statt. Doch kurz bevor die Front an Neukalen herankam, wurde der Unterricht eingestellt.

 

 

Die Russen kommen

 

Seit mehreren Monaten wälzte sich eine schier endlose Schlange von Flüchtlingswagen durch das Ackerbürgerstädtchen Neukalen. Da wir direkt an der Hauptstrasse wohnten, sahen wir täglich die verhärmten Menschen, die auf offenen oder mit Planen und Decken verhängten Wagen, von Pferden oder Ochsen gezogen, ihre Habseligkeiten zu retten versuchten. In den letzten Apriltagen wurden es jedoch weniger. Wir hörten nun ständig Geschützdonner in der Ferne und unser Häuschen vibrierte so, dass die Gläser und Teller klirrten.

In unserer Umgebung waren nur alte Leute, Frauen und Kinder, da die Männer an der Front oder zum Volkssturm eingezogen waren und keiner wusste bescheid, wie es weitergeht und was zu unternehmen sei. Nur alle wussten genau, was kommt, wird furchtbar werden!

Hinter verhohlener Hand wurde erzählt, dass es zweckmäßig wäre, alle militärischen Sachen aus dem Haushalt zu beseitigen, da sonst die Russen bei solchen Fundsachen Rache üben und fanatisch hausen würden. Bald darauf sahen wir die Nachbarn in ihren Gärten hinter den Häusern Löcher graben und sie versteckten Militär-, SA- und andere Sachen sowie Waffen. Nun begannen wir auch fieberhaft zu überlegen, was wir beseitigen mussten. In unserer Unbedarftheit fiel uns ein, dass meine echte braune Revolvertasche, in der sich eine von meinem Vater gebastelte Holzpistole befand, meine Spielsoldaten mit Hakenkreuz und irgendwelche Abzeichen eine Gefahr bilden könnten, schlugen alles in einem Tuch ein und verbuddelten es in unserem Garten.

Am 28. April wurde erzählt, dass die Stadt nicht kapituliert, sondern - wie es im Nazijargon hieß - bis zum letzten Blutstropfen verteidigt werden sollte. Wir erfuhren irgendwie, dass es zwar strengstens verboten war, aber falls die Stadt von den Russen eingenommen werden sollte, günstig wäre, eine weiße Fahne als Zeichen des Ergebens vorzubereiten, und sie beim Einmarsch der Russen aus dem Fenster zu hängen. Meine Mutter zerriss ein Bettlaken und an einem alten Stock befestigten wir es. Doch dann wurde verkündet: wer die weiße Flagge zeigt, wird erschossen! Also wurde das Ding wieder gut versteckt.

Unweit unseres Hauses lagen zu dieser Zeit auch tote Zivilisten und Soldaten, aber meine Mutter verbot es mir, näher heranzugehen und in dem Angstzustand, in dem wir uns befanden, berührte es uns auch nicht stark.

Am 29. wurde durch die Verwaltung bekannt gegeben, dass die Stadt verteidigt werden sollte und Frauen und Kinder die Stadt verlassen müssen, während alle Männer bei der Verteidigung der Stadt mitwirken sollten.

Wir bepackten wie auch alle Nachbarn einen vierrädrigen Handwagen mit den wichtigsten Utensilien und gemeinsam mit diesen Leuten zogen wir in ein etwa 3 km entferntes Wäldchen 2). Auf dem Waldboden wurden Decken ausgebreitet, weil klar wurde, dass wir hier die Nacht verbringen mussten. Die Angst, was wird, was kommt, war groß.

Ich wusste aus der Schule, dass grausame „Untermenschen“ kommen, und die Erwachsenen waren aufgrund der Propaganda und durch wilde Gerüchte ebenfalls voller Furcht, wie die Feinde mit uns umgehen würden.

Für mich war es außerdem sehr aufregend, eine Nacht im Freien zu verbringen. In der Ferne hörten wir immer noch das Schießen von Geschützen, das jedoch zum Abend langsam verebbte. Ich sollte schlafen, aber wegen der inneren Erregung wurde nicht viel daraus. In der Nacht hörten wir dann fremde Laute und ständiges Quietschen und Knarren, das von einem Landweg ausging, der sich in nur wenigen 100 m an unserem Wäldchen vorbeizog. Wie wir später erkannten, waren u.a. auf diesem Weg nachts die Russen mit einem endlos langen Zug von Panjewagen (Holzwagen, von Pferden gezogen, die vorne an der Deichsel unter einem Joch gingen) in unser Städtchen eingezogen.

Als morgens die Sonne aufging, war alles friedlich und die Natur ergriff uns mit ihren Geräuschen. Uns war nichts passiert und um Neukalen wurde nicht geschossen - wie geht es nun weiter? In Abhängigkeit des zivilen Mutes machten sich einige Familien auf den Weg nach Neukalen. Zurück kam keiner und irgendwelche Botschaften erhielten wir auch nicht. So fassten wir dann am Vormittag den Entschluss, mit unserem Handwagen auf dem Landweg vorsichtig in Richtung Stadt zu gehen. In der Umgebung konnten wir nichts entdecken, was unseren Argwohn erweckte.

Wir hatten etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt, da gefror uns fast das Blut in den Adern! Wir sahen einen einzelnen Russen auf einem Fahrrad eben auf diesem Weg uns entgegenkommen. In einer gewissen Entfernung stieg er vom Rad, griff nach seiner Pistolentasche und kam mit schussbereitem Revolver vorsichtig auf uns zu. Er versuchte offenbar zu ergründen, was für eine Gruppe er vor sich hatte: Wir waren zwei Kinder, meine Mutter, meine Tante und die Oma, alle vor Angst schlotternd um den Handwagen herum stehend und dachten, nun wäre das Leben zu Ende. Als der russische Soldat erkannte, dass von uns keine Gefahr ausging, nahm er wieder sein Fahrrad auf und kam näher an uns heran. Als er bei uns war, schob er mit seiner Pistole den blanken Schirm seiner Mütze (er muss ein Offizier gewesen sein) in den Nacken und sagte zu uns: „Krieg aus, Hitler kaputt, geht nach Hause!“ Er stieg auf sein Rad und fuhr weiter. Es war für uns alle unfassbar, dass der Soldat uns nichts getan hatte, sondern im Gegenteil äußerst nett war. Das gab uns großen Mut, in die Stadt zurückzukehren.

Am Dorfteich 3) vorbei kamen wir in die Hauptstraße, und es bot sich uns ein buntes und ungewohntes Bild: Die Straße aber auch die Bürgersteige waren mit russischen LKWs und Panjewagen vollgestellt und überall liefen russische Soldaten herum. Wir wurden jedoch nicht behelligt und gingen zu unserem Häuschen. Gegenüber befand sich eine Tankstelle 4) und dort stand eine Droschke mit einem Pferdegespann. In dem offenen Wagen saßen russische Offiziersfrauen, und meine Mutter erkannte sofort, dass sie auf unseren, aus Rostock mitgebrachten, blauen Steppdecken saßen. Der Ärger war groß, aber wir lebten - das war das Fazit meiner Mutter. Die Haustür war aufgebrochen worden, und in den Zimmern war alles durchwühlt. Wir stellten nichts fest, was uns entwendet worden war.

Da bisher die Begegnung mit den „Untermenschen“ so einfach verlief, fiel von mir offenbar ein großer psychischer Druck ab und ich sagte zu meiner Mutter:

„Ich habe Hunger“ - Worte, die ich als schlechter Esser (teilweise durch Krankheiten bedingt) noch nie gesagt hatte. Der Krieg, die Luftangriffe in Rostock und das bevorstehende Schrecken hatten sicherlich gewaltig auf mir gelastet.

Nun saßen wir da und dachten, das Schlimmste überstanden zu haben.

Hin und wieder kamen Russen herein und wollten „Uri, Uri“ unsere Uhren haben, die wir jedoch abgenommen und versteckt hatten. Jedes Mal war es allerdings eine Riesenangst, ob sie es uns auch glaubten und sich zufrieden gaben.

Bis zum Nachmittag wurden wir auch nicht stärker behelligt. Dann kam jedoch ein Offizier ins Zimmer, sah sich die Frauen genau an und sagte zu meiner Mutter, sie solle mitkommen. Voller Angst folgte sie auch. Meine Tante und meine Oma begannen zu schluchzen. Ich konnte offenbar noch nicht so richtig erfassen, was passieren sollte und hatte nur Angst um sie. Sie kam jedoch schnell zurück (offenbar hatte sie gerade ihre Tage) und der Russe schimpfte und sah sich weiter im Haus um. Auf dem Hof stand das Fahrrad mit roten Vollballonreifen meiner Mutter, das er mitnahm und damit wegfuhr. Danach wurde viel über den Vorfall debattiert, aber durch neue „Besuche“ kamen wir nicht zur Ruhe.

Allmählich stieg wieder eine große Angst in uns auf, zumal es auf der Straße immer lauter wurde; Schüsse, Gesang, Motorlärm drangen zu uns. Vermutlich wurde viel Alkohol konsumiert. Wie soll es erst am Abend und in der Nacht werden?

Dann kam meine Oma auf eine gute Idee: Unser kleines Häuschen hatte ein Giebeldach. Der obere Teil war durch dünne Holzsparren von dem Obergeschoß, in dem sich unsere Kammer befand, abgetrennt. Auf diese Zwischenebene, die nur über eine Leiter zu erreichen war, brachten wir Decken und danach kletterten wir alle hinauf und zogen die Leiter ein.

Langsam wurde es dunkel. Elektrischen Strom gab es nicht. Der Lärm auf der Straße wurde immer stärker, dazwischen waren Schüsse und Ziehharmonikamusik zu hören, und es dauerte nicht lange, da kamen auch wieder die ersten Russen in unser Haus und stöberten in unserer Kammer. Sie kamen grölend und rauchend mit Taschenlampen und gingen in nur 1 m Entfernung unter uns durch. Voller Angst saßen wir über ihren Köpfen und hielten den Atem an. Durch die Spalten der dünnen Dielen konnten wir sie sogar sehen. Die Angst entdeckt zu werden war furchtbar!

Auf der Straße entstand später tumultartiger Lärm und immer wieder kamen neue Besucher. Gegen Mitternacht ertönten dann mehrmals Fanfarensignale und danach wurde es ruhiger. Die Erwachsenen wollten wissen, dass am ersten Tag der Besetzung die Russen machen konnten, was sie wollten, danach müssten sie sich normal benehmen. Und wirklich das Getöse wurde weniger und die Besuche ließen nach, aber wir blieben die ganze Nacht auf dem Zwischenboden.

Am nächsten Morgen besahen wir uns den Schaden, aber außer, dass alles durchwühlt war, fehlte offensichtlich nur eine alte Wanduhr.

Nun wurde auch Kontakt mit den Nachbarn aufgenommen und jeder hatte von Vergewaltigungen, wüsten Orgien und anderen Gräueltaten zu berichten.

Für uns Jungs begann nun eine aufregende Zeit. Mit meinem Freund Joachim 5) gingen wir in das Werkstattgebäude der Tankstelle, in der alles chaotisch umgewühlt war. Zwischen der Schlämmkreide von den Schweißmaschinen lag deutsches Geld. Wir nahmen an, dass es wertlos sei, sammelten aber alle Münzen und die Geldscheine auf, um damit später zu spielen.

Nun bekamen wir auch mit, dass die Mitbürger des Ortes die Gunst der Stunde nutzten und in den Geschäften klauten. Da wollten wir natürlich dabei sein. In einem Lebensmittelgeschäft kurz vor dem Markt 6) waren die Schaufenster zerstört, die Ladentür aufgebrochen, und wir gingen hinein. Alles war wirr, die Schubladen herausgezogen und teilweise am Boden entleert. Wir entdeckten dann ein Butterfass, die Holzspanten waren alle herunter gebogen, aber überall klebten noch kleine Butterstückchen, die wir mitnahmen.

Danach gingen wir zum Markt. Am Rande war dort ein Fahrrad- und Motorradgeschäft 7) und die Türen standen auf! Wir gingen hinein und wollten etwas mitnehmen, wussten nur nicht was. Ich nahm einen kleinen Blechkasten, auf der einen Seite mit Schalter auf der anderen mit Zahnrädern, mit. Viel später erkannte ich, dass es ein Scheibenwischermotor von einem PKW war.

Dann gab es nochmals große Aufregung. Die Russen hatten, offenbar das Verhalten der Deutschen kennend, die Gärten hinter den Häusern abgesucht. Mit langen Degen stocherten sie in der Erde herum und bei Hindernissen gruben sie sie aus. So wurden u.a. auch meine versteckten Militärspielsachen entdeckt, ausgegraben und ausgewickelt. Es hatte jedoch keine Konsequenzen für uns, aber was müssen die Russen wohl gedacht haben: ein Scherz oder Beweis für die Einschüchterung der deutschen Bevölkerung?

In den nächsten Tagen streiften wir durch die Gegend und es war irre, was dort alles herumlag. Deutsche Waffen und andere Militärsachen, aber auch tote Tiere und am Ausgang der Stadt lagen die Chausseegräben voll mit Beutestücken, die die Russen beim Weitermarsch als hinderlich einfach wieder weggeworfen hatten.

Wir nahmen davon jedoch nichts mit. Warum? Wir waren sicherlich zu naiv!

In den nächsten Tagen hörten und teilweise sahen wir, wie Leute Handkarren und -wagen, die mit Militärstoff- und großen Lederballen beladen waren, nach Hause schoben. Sie kamen aus der alten Ziegelei am Rande des Ortes, wo von der Wehrmacht ein Versorgungslager eingerichtet worden war. Nun wollten wir Jungs aber auch etwas davon abbekommen. Und so zogen wir zur Ziegelei, überkletterten die Mauer und gingen in die Hallen. Bergeweise lagen dort Militärsachen. Wir wussten, dass das Mitnehmen verboten war und mit großen Sachen konnten wir nicht über die Mauer, aber irgend etwas musste sein. So nahm ich dann ein großes, gebündeltes Päckchen mit grünem, filzigen Stoff sowie einen Ring aufgefädelter kleiner Lederstückchen mit. Später erkannte ich, dass der Stoff die Einlagen für die Schulterstücke der Panzerjäger der Wehrmacht und die Lederstückchen die Knopfleisten von Hosenträgern waren. Noch in späteren Jahren benutzte ich sie zum Abstreifen von Tinte am Federhalter.

Inzwischen muss auch eine deutsche provisorische Verwaltung eingesetzt worden sein, denn mit öffentlichen Bekanntmachungen wurde verkündet, dass das Beutegut aus dem Militärlager zurückzugeben sei, ansonsten wurde Erschießen angedroht. Ich versteckte meine „Beutestücke“ in der Scheune. Wir sahen auch, dass große Mengen im Rathaus abgegeben wurden, trotzdem tauchten im Herbst Mitbürger mit selbst geschneiderten Jacken aus Militärstoffen und selbst gefertigten Stiefeln auf! Von einer Nachbarin bekam ich später auch ein heftgroßes Stück graues Leder, aus dem ich mir eine Geldbörse machen ließ, die ich sehr lange benutzt habe.

In den ersten Tagen nach dem Zusammenbruch stand auch noch immer ein gelber Postwagen, der vom deutschen Militär eingesetzt worden war, auf dem Bürgersteig des Nachbarhauses. Mit meinem Freud Joachim spielten wir viel in dem Auto. Der Nachbar wollte es aber nicht auf seinem Grundstück haben und sagte, wir sollten es weiter schieben. Der Nächste verhielt sich genau so, bis der Wagen vor einer Gaststätte an einer Querstraße 8) stand. In unmittelbarer Nähe war nun der Dorfteich. Irgendjemand kam nun auf die Idee, das Beste sei, den Wagen verschwinden lassen und ihn in den Teich zu fahren. Mit vereinten Kräften schoben wir ihn über die aus Beton eingefasste Brüstung des Teiches und mit einem großen Wasserschwall versank mit viel Glucksen der gelbe Postwagen. Nichts war mehr zu sehen!

Der nächste Aufruf der Verwaltung schockte uns dann sehr: Am nächsten Tag mussten bis 12.00 Uhr alle Radio- und Fotoapparate sowie Ferngläser „zeitweise“ abgegeben werden. Mit Mühen hatten wir aus Rostock unser Radio nach Neukalen geschleppt. Nun sollten wir es abgeben! Meine Mutter wickelte es in eine Decke ein, und auf dem Handwagen zogen wir es zum Markt. Dort waren vor dem Rathaus lange Tische aufgestellt, und wir bekamen für die Abgabe des Fotoapparates und des Radios eine Bescheinigung. Meine Mutter war sehr besorgt, dass das Holzfurnier des Radios auch keine Schramme abbekam und war sehr froh, dass nur ein kleines anderes Gerät auf unseren Apparat gestellt wurde. Als Trost verkündete sie, dass es ja nicht so schlimm sei, da wir ja sowieso keinen elektrischen Strom hatten. Natürlich haben wir von den abgegebenen Sachen nichts zurück bekommen. Mein Onkel Walter Tuchhard, der 1946 als Strafarbeiter im Rostocker Hafen arbeitete, hat dann viele russische Schiffe mit derartigen Sachen beladen müssen.

Unser liebstes Spielzeug war zu dieser Zeit ein Militärfahrzeug und ein Geschütz, das von der Wehrmacht im Wald 9) ganz in der Nähe der Stadt stehen gelassen war. Alle Bedienelemente funktionierten noch, und so konnten wir die Plattform drehen und den Geschützlauf heben und senken. Munition lag auch noch herum, aber daran trauten wir uns nicht. Mit den kleineren Patronen erfanden wir jedoch „interessante“ Spiele. Es wurden die Spitzen herausgebrochen, das Pulver auf einen Haufen geschüttet, aus weiterem Schiesspulver eine Zündschnur gelegt und dann mit einem Streichholz gezündet. Es gab herrliche kleine Explosionen! Ein gefährliches Spiel, aber uns ist zum Glück nichts passiert!

Allmählich normalisierte sich das Leben, und im Sommer begann wieder die Schule. Im Frühjahr 1946 kehrten wir dann nach Rostock zurück. Die Wohnung meiner Eltern, d.h. das ganze Mietshaus, war mit Russen besetzt und somit verloren wir Hab und Gut. Meine ehemaligen Spielfreunde Dieter und Peter lebten nicht mehr, da ihr Vater, offenbar ein engagierter Nazi und Stadtrat, vor dem Einmarsch der Besatzungskräfte zunächst die ganze Familie und anschließend sich selbst erschossen hatte.

 

Nachbemerkung

 

Angeregt durch das Aufzeichnen dieser Erlebnisse besuchte ich 2004 nochmals das Städtchen. Alle Gegebenheiten fand ich wieder, nur der ehemalige Landweg am Wäldchen war inzwischen mit einer Asphaltdecke bezogen. Die alte Ziegelei wird nicht mehr bewirtschaftet.

Bei einem zufälligen Gespräch mit einem älteren Einwohner kam ich auf meinen ehemaligen Freund Joachim zu sprechen. Der ältere Herr wusste, dass Joachim, mit dem ich seit der damaligen Zeit nie wieder Kontakt hatte, als Architekt in Braunschweig leben soll. Dank Telefonauskunft konnte ich seine Adresse ermitteln und nahm für ihn auch völlig überraschend telefonischen Kontakt auf. Nach 60 Jahren haben wir uns nun ein persönliches Wiedersehen versprochen! Dieses wurde auch eingehalten, und wir haben danach regelmäßig miteinander telefoniert. Leider ist mein Freund dann nach langer schwerer Krankheit 2017 verstorben.

 

 

 

1) Das Haus Straße der Freundschaft 16 gehörte damals Ida Tuchhard, geb. Leverenz.

2) Gemeint sind die „Salemer Tannen“.

3) Gemeint ist der „Ratmannsteich“.

4) Vor dem Haus des Schlossermeisters Richard Hilgendorf (Straße der Freundschaft 13) befand sich damals eine Tanksäule.

5) Joachim Hopp, geb. 25.12.1937.

6) Lebensmittelgeschäft des Kaufmann Paul Losehand in der Straße des Friedens 16.

7) Klosterstraße 35, Mechanikermeister Friedrich Pansow.

8) Gaststätte von Frau Kottke, Bahnhofstraße 1.

9) Das „Gartsbruch“.

Vor dem Haus Chausseestraße 16 um 1930

Vor dem Haus Chausseestraße 16 um 1930.

Von links: Ida Frieda Wilhelmine Auguste Tuchardt, geb. Leverenz (geb. 29.9.1879); Sohn Walter Tuchhard (geb. 22.11.1918 in Rostock); Carl Wilhelm Ernst Tuchhard (geb. 10.4.1871 in Neukalen, gest. 18.11.1939 in Neukalen).

Das Wohnhaus Straße der Freundschaft 16 (1965)

Das Wohnhaus Straße der Freundschaft 16 (1965).

Von links: Anna-Liese, Ida Tuchhard mit Günther Brüdigam auf dem Arm, Hildegard Brüdigam (um 1938)

Von links: Anna-Liese (Tochter von Ida Tuchhard), Ida Tuchhard mit Günther Brüdigam auf dem Arm, Hildegard Brüdigam (um 1938).

Von links: Carl Tuchhard, Ida Tuchhard, Walter Tuchhard, unten Günther Brüdigam (um 1938 auf dem Adolf-Hitler-Platz)

Von links: Carl Tuchhard, Ida Tuchhard, Walter Tuchhard, unten Günther Brüdigam

(um 1938 auf dem Adolf-Hitler-Platz).

Günther Brüdigam in der Badeanstalt Neukalen
Günther Brüdigam in der Badeanstalt Neukalen
Günther Brüdigam in der Badeanstalt Neukalen

Günther Brüdigam in der Badeanstalt Neukalen

(Sommer 1944).

Günther Brüdigam mit seiner Mutter Hildegard Brüdigam, geb. Tuchhard (Weihnachten 1946).

Günther Brüdigam, der Autor dieses Beitrags, mit seiner Mutter Hildegard Brüdigam, geb. Tuchhard

(Weihnachten 1946).

Hildegard Brüdigam, geb. Tuchhard (um 1930)

Hildegard Brüdigam, geb. Tuchhard (um 1930).

Hildegard Brüdigam, geb. Tuchhard (1946)

Hildegard Brüdigam, geb. Tuchhard (1946).

Ida Tuchhard mit Enkelsohn Günther Brüdigam (um 1940)

Ida Tuchhard mit Enkelsohn Günther Brüdigam (um 1940).

Von links: Anna-Liese Tuchhard, ihr Kind, Walter Tuchhard, Ida Tuchhard (um 1930)

Von links: Anna-Liese Tuchhard, ihr Kind, Walter Tuchhard, Ida Tuchhard (um 1930).

Ida Tuchhard vor ihrem Haus Chausseestraße 16 (um 1935)

Ida Tuchhard vor ihrem Haus Chausseestraße 16 (um 1935).

Neukalen, ein Besuch nach 77 Jahren

 

Günther Brüdigam

 

Als 8- bis 10-Jähriger war ich, vor den Luftangriffen auf Rostock flüchtend, von 1943 bis 1946 in Neukalen. Mit meiner Mutter wohnten wir in der Mansarde des Hauses meiner Oma in der Chausseestraße. In den vergangenen Jahrzehnten war ich zweimal auf der Durchreise für kurze Zeit in dem Städtchen. Nun, im Alter und kurz vor Toresschluss, wollte ich noch einmal auf den Spuren der Jugend laufen. Doch was sah ich? Nichts war mehr so, wie meine Erinnerungen es mir recht genau vorgaukelten.

Das Haus meiner Oma von außen der Vergangenheit entsprechend, allerdings die Mansarde fehlte. Es war verkauft worden, und der neue Besitzer hatte, wie er mir sagte, alles abgerissen und neu gebaut. Auf dem Hof war nicht mehr die Mistgrube und das Bumsklo und auch die Stallungen waren neu. Nur der Garten dahinter war noch wie in der Erinnerung. Mein Schulweg durch die Ringstraße, den ich als sehr lang in Erinnerung hatte, schrumpfte nun stark zusammen. Die „große“ Schule ist ein relativ kleines Haus und Altersheim! Der Bahnhof, damals ein wichtiges Gebäude, ist privatisiert und nicht mehr zugänglich. Ein Eisenbahnanschluss fehlt! Der schlichte Umschlaghafen mit der schmalen Peene von damals ist ein moderner Freizeithafen geworden und auch das Bad an der Peene, in dem ich schwimmen gelernt habe, ist verändert. Der auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses meiner Oma gelegene Bauernhof mit Misthaufen und dem aggressiven Hahn darauf existiert nicht mehr. Die Wasserpumpen am Rande der Straße sind weg und auch die Gaststätte, von der ich mit der Kanne Bier holen musste, ist nicht mehr vorhanden.

Ja, es hat sich im Wandel der Zeit alles total verändert. Mir erscheint der Ort als entvölkert. Ich konnte nur eine Fleischerei und am Markt eine Pizzeria entdecken, sonst keine Geschäfte, keine geschäftigen Handwerker. Aber auffallend war, dass alle Häuser saniert waren und hübsche bunte Farben tragen. Auch liebevoll waren häufig von den Bewohnern der Häuser kleine Schalen mit Blumen vor die Haustür gestellt. Menschen sah ich nicht, es war einfach ruhig. Aber Neukalen erlebt, sicher wie viele kleine Orte, dass die Bewohner wegen der Arbeitsstelle den Ort verlassen haben und damit auch die Jugend fehlt. Aber auch vielleicht das Positive dadurch: Ich sah kein Graffiti auf den Wänden, so wohltuend für einen Großstadtmenschen, der sonst ständig beschmierte Wände sieht! Für Fahrradwanderer sind viele Hinweis- und Orientierungsschilder aufgestellt.

Das Fluidum von Neukalen der 40-iger Jahre, das mich mein Leben begleitet hat, ist weg. Es war zu erwarten, denn das Rad der Geschichte dreht sich weiter und das Anheimelnde solcher kleinen Orte mit ihrem typischen Anblick, Straßenzustand und Geruch wie einst gibt es nicht mehr! Dafür gibt es aber etwas Neues: Neukalen hat eine wunderbare Internetpräsentation. Darin wird auch die Vergangenheit mit großer Akribie dargestellt und mit interessanten Bildern ergänzt. Bemerkenswert ist die Herausgabe einer jährlichen Schriftenreihe „Jahreshefte des Neukalener Heimatvereins“, die sich mit der Heimatgeschichte befasst. Für mich war es besonders angenehm, mit dem kompetenten Herausgeber Herrn Schimmel, die alten Gegebenheiten und Situationen im Gedankenaustausch aus der Vergangenheit hervorzuziehen. So habe ich verschiedenes Interessantes und Neues erfahren. Das entschädigte mich für das nicht wiedergefundene Flair von Neukalen!

Ansichtskarte "Chausseestraße" (1939)

Ansichtskarte "Chausseestraße" 1939.