Das Wintergoldhähnchen
Dr. Helge Nagel
Die Natur stand auf Warteposition. An den jungen Eichen zitterten die braunen Blätter des Vorjahres im eisigen Wind. Die letzten aufrecht stehenden Halme des dürren Grases am Waldrand schwankten sacht. Manchmal war es für einen Moment windstill.
Es war ein sonniger Februarnachmittag des Jahres 2005. Meinen „Fiesta“ hatte ich an einem Kiefernwäldchen geparkt, an einer Stelle, wohin sich der kalte Nordwind nur selten verirrte. Damals ging das noch. Neuerdings verwehrt eine Sperrscheibe die Zufahrt.
Schade, denn von dort hat man einen wunderschönen Ausblick auf den See. Linker Hand liegen die ausgedehnten Sumpfwiesen, die nach rechts allmählich in die Berge der Mecklenburgischen Schweiz übergehen. Parkartig aufgelockert wird die Landschaft durch einzeln stehende Bäume und kleine Gehölze.
Das Auto hatte ich so hingestellt, dass sich durch die Frontscheibe ein annähernd ausgewogenes Bild ergab. Zu dieser Jahreszeit zauberte die Sonne eine Sinfonie von Brauntönen in die Natur. Die Autoscheibe rahmte mir also ein Landschaftsbild ähnlich den Gemälden alter Meister.
Im Auto war es mollig warm. Bedächtig stopfte ich meine Pfeife. Als sie brannte, lehnte ich mich im Sitz zurück und genoss den Ausblick. Was für ein schöner Nachmittag!
Leider ließ sich die schöne Wärme im Auto nicht lange halten. Die Luft wurde knapp. Um keinen Durchzug entstehen zu lassen, senkte ich nur die rechte Scheibe ab. Zu meiner Freude hatte die Sonne schon so viel Kraft, dass es im Auto vertretbar warm blieb.
Zusätzlich zum Ausblick konnte ich nun auch die Geräusche in der unmittelbaren Umgebung wahrnehmen. Die Randäste der Kiefern ragten weit auf die angrenzende Wiese hinaus. Einer davon hing direkt über dem Auto. In das Rauschen der Bäume mischte sich plötzlich ein leises Piepsen, ich schaute mich um. Auf dem Ast über mir und in den Nachbarästen saßen winzige grünliche Vögelchen mit einem gelben Strich auf dem Kopf. Emsig pickten sie in den Zweigen nach Schädlingen. Einige standen wie Kolibris schwirrend in der Luft. Ein Schwarm Wintergoldhähnchen hatte sich bei mir eingefunden.
Diese kleinen Insektenfresser sind nicht besonders scheu – so steht es zumindest in den Bestimmungsbüchern. Das deckte sich bis dahin auch mit meinen eigenen Erfahrungen. Wie weit die Zutraulichkeit gehen kann, zeigte sich als einer der kleinen Schwirrer durch das offene Fenster ins Auto flog. Er flatterte mir dicht am Kopf vorbei und wollte eigentlich durch die Heckscheibe wieder ins Freie. Wahrscheinlich machte er hier zum ersten Mal in seinem kurzen Leben mit Glas Bekanntschaft. Verzweifelt flatterte der pummelige Vogel an der Scheibe auf und ab. Schließlich saß er schwer atmend und erschöpft auf der Hutablage.
Freundlich sprach ich mit dem kleinen Eindringling, er soll sich nicht fürchten und wieder zum Fenster hinausfliegen. Er traute sich aber nicht mehr an meinem Kopf vorbei.
Natürlich war das die Gelegenheit, ein Wintergoldhähnchen ganz aus der Nähe in Ruhe zu betrachten. Er saß vor der Scheibe und blickte gehetzt um sich. Was mir schon beim Zaunkönig aufgefallen war, traf auch auf mein vorwitziges Goldhähnchen zu. Man ist geneigt diese kleinen Schädlingsvertilger niedlich zu finden, dabei sind sie Raubtiere, wenn auch in einer winzigen Größenordnung. Den kleinen Vögeln geht es bei ihrem Existenzkampf nur ums Fressen. Ihr Blick ist kalt und aufmerksam.
Lange blieb das kleinste Vögelchen Europas allerdings nicht sitzen. Wieder flatterte es mit wilder Energie an der Scheibe auf und nieder. Da half weder gutes Zureden noch das Öffnen der Beifahrertür. In seiner Angst versuchte das Goldhähnchen anschließend zwischen Scheibe und Hutablage in den Kofferraum zu kriechen. Der Versuch misslang. Es blieb im Spalt stecken. Nur das kurze Schwänzchen ragte noch über die Ablage.
Das war der Moment, wo es wirklich nicht mehr weiterging. Ich stieg aus, um das Vögelchen aus der misslichen Lage zu befreien. Von außen konnte ich nun gut sehen, wie weit sich das verängstigte Tier schon zum Kofferraum vorgearbeitet hatte. Ganz behutsam, um ihm ja auch kein Federchen zu knicken, öffnet ich die Tür. Sobald es frei kam, flatterte es gesund und munter in die Kiefern als wäre nichts geschehen. Der kleine Schwarm Wintergoldhähnchen war in der Zwischenzeit weitergezogen. Gewichtig bewegte sich der große Ast über meinem Auto im Wind.
Eine knappe Stunde verweilte ich anschließend noch an dieser Stelle, dann sank die Sonne in die hohen Pappeln des nahen Weges. Es wurde kalt im Auto.
Bei dem Gedanken an die warme Wohnung fiel mir der Abschied von der winterlichen Natur nicht sonderlich schwer.
Der Ausblick von meinem Standort am Mühlenwäldchen.