Die Aussiedlung aus dem Sudetenland
Nico Schaeffer
Meine Oma Waltraud Schoknecht geb. Hofrichter (Jg. 1932) kam ungefähr im September 1946 nach Neukalen. Bei Gesprächen und eigenen Recherchen zu meiner Familienforschung wurde mir von Verwandten folgendes über ihre Heimat berichtet:
Sie und ihre Familie lebten im Dorf Radonowitz (Radonovice). Das Dorf liegt im nördlichen Böhmen am südlichen Fuße des Jeschkengebirges, etwa 15 Kilometer südlich von Reichenberg (Liberec) und 2 km östlich von Liebenau (Hodkovice nad Mohelkou), Radonowitz und das etwas größere Nachbardorf Pelkowitz (Pelikovice) waren über Jahrhunderte einfache Bauerndörfer. Erst zum Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Gegend von wohlhabenden Erholungssuchenden aus größeren böhmischen Städten, wie z.B. Karlsbad (Karlovy Vary) entdeckt und es entwickelte sich ein wenig Tourismus.
Ansichtskarte "GRUSS aus RADONNOWITZ" (1931)
Ansichtskarte "SOMMERFRISCHE RADONOWITZ bei LIEBENAU i B" (1938)
Ansichtskarte "Radonowitz bei Liebenau i. B." (1940)
Im Vordergrund das Haus Nr. 28.
Das Dorf hatte ca. 120 Einwohner. In der Mitte des Dorfes befand sich an einem kleinen Platz das Gemeindehaus, dort wurden im Sommer die Kinder des Dorfes betreut. Zur Grundschule gingen die Kinder nach Pelkowitz. Die Oberschule war in Liebenau.
Waltraud wuchs mit ihren Geschwistern Margit (Jg. 1933) und Maria (Jg. 1937), sowie ihrer Mutter Julie geb. Ullrich (Jg. 1904) und ihrem Vater Ernst Hofrichter (Jg. 1903) im Haus Radonowitz Nr. 28 auf. Dieses Haus hatte ihr Vater Ernst Hofrichter, Anfang der 1930iger Jahre erworben. Er arbeitete in einer Papierdruckfabrik in Liebenau. Mit einer kleinen Landwirtschaft, zwei Kühen und zwei Ziegen sorgten die Eltern für die Familie.
Hochzeit Julie Ullrich und Ernst Hofrichter am 1. März 1930
Kindergarten in Radonowitz (um 1940)
Ernst Hofrichters Vorfahren stammten über Jahrhunderte aus dem Dorf Pelkowitz und waren hauptsächlich Bauern. Die Vorfahren seiner Frau Julie geb. Ullrich stammten aus Radonowitz. Sie lebten im Haus Radonowitz Nr. 13. Dieser Bauernhof wurde, wie damals üblich, immer an den ältesten männlichen Nachkommen vererbt. Diese Erbfolge wurde mindestens 250 Jahre eingehalten. Zur Familie ihres Bruders Ernst Ullrich (Jg. 1912) hatten Sie ein sehr gutes Verhältnis, das auch noch später in Neukalen gepflegt wurde.
Das Haus Nr. 13 in Radonowitz
Kurz vor Kriegsende kam ständig die Polizei und hat Drohungen ausgesprochen, dass die Häuser verdunkelt werden müssten, da ansonsten Strafen drohen. Auch wurde überprüft wie mit den Fremdarbeitern umgegangen worden ist, da sie nicht mit den Bauern an einem Tisch sitzen durften, sondern getrennt von den deutschen Familien. Die Fremdarbeiter hatten große Angst vor dem Kriegsende und vor möglichen Bestrafungen durch die eigenen Landsleute. Im Dorf gab es keine direkten Kampfhandlungen während des Krieges. Unmittelbar vor der Besetzung des Dorfes sind die Familien aus ihren Häusern raus und haben sich im Wald versteckt.
Ernst Ullrich (Jg. 1912) war im Krieg vermisst und seine Frau Gertrud mit den Kindern Ernst, Erna und Ingrid mussten nach dem Kriegsende aus dem Haus Radonowitz Nr. 13 ausziehen und kamen dann im Haus der Familie Hofrichter unter.
Im Spätsommer 1946 hieß es dann, dass noch ein letzter Zug fährt, um die deutsche Bevölkerung auszusiedeln. Sie hätten bleiben können, wenn Sie die tschechische Staatsangehörigkeit angenommen hätten. Es durfte eine vorgegebene Menge an Kleidung und anderen Dingen mitgenommen werden, aber Dokumente über Haus und Grundstücke usw. durften nicht mitgenommen werden. Mit einem Leiterwagen wurden alle Personen und das was sie in ihre selbstgebauten Kisten gepackt hatten, zum Bahnhof gefahren.
Die Menschen wurden in Viehwagen bzw. Gütertransportwagen verbracht. Die Fahrt ging nach Bad Schandau. Dort wurde der Eisenbahnzug geteilt. Ein Teil fuhr in Richtung Westen, ein Teil in Richtung Norden. Dadurch wurden die anderen Verwandten in ganz Deutschland verteilt. Die Zugfahrt führte Familie Hofrichter, Ullrich und andere zuerst nach Malchin. Im Industriegebiet kamen Sie für etwa 4 Wochen in einem Lager unter. Als sie anschließend in Neukalen ankamen, wurden Sie anfangs im Saal des „Hotel Dahms“ untergebracht, bis ihnen dann nach und nach Zimmer in der Stadt zugewiesen wurden.
Die Familie Ullrich (Mutter Getrud mit den Kindern Ernst, Erna und Ingrid) und die Familie Hofrichter (Ernst mit seinen Töchtern: Waltraud, Margit und Mariechen) wurden zwei Zimmer im Rathaus-Anbau zugewiesen. Ende der 1940iger Jahre zog Familie Ullrich dann in die Bahnhofstraße und die Familie Hofrichter bekam Anfang der 50iger Jahre eine Wohnung in der Straße der Freundschaft im Stadthaus. Meine Oma heiratete 1953 den Sattler Fritz Schoknecht, sie wohnten Am Markt 15 in Neukalen.