Meine Schwester Margot oder
"Magi mit dei Lexenschachtelschauh"
Edeltraud Kock, geb. Behrendt
Ich will die Geschichte meiner Schwester Margot erzählen, welche mir sehr am Herzen liegt. Außerdem möchte ich einige Episoden aus ihrem Leben herauspicken und schildern, wie sie die drauffolgenden Jahrzehnte gemeistert hat. Warum läßt man die alten Sachen nicht ruhen, werden sich manche Leute fragen. Ja, weil das auch zum Leben unserer Familie gehört. Jedenfalls, ich persönlich, will es wissen. Bei meinen Eltern habe ich es versäumt, nach deren Vergangenheit zu fragen und mir Notizen zu machen. Damals war ich noch zu jung, um mich in ihre Vergangenheit hineinzuversetzen. Heute bereue ich es, nicht getan zu haben. Einiges hat unsere Mutter mir erzählt, aber Vater sprach nicht gerne darüber und hat lieber geschwiegen. Die Geschichte unserer Eltern gehört natürlich dazu. Ich, das jüngste Kind der elfköpfigen Familie Franz und Helene Behrendt, kenne meine Geschwister nur, als sie schon erwachsen waren, denn mit Abstand bin ich nun mal das Nesthäkchen. Meine Schwester Margot ist zwanzig Jahre älter als ich. So bin ich begierig darauf, wie sie und meine anderen Geschwister das Leben damals geschafft haben.
Leider kenne ich meine Großeltern und zwei meiner Geschwister nicht persönlich, denn ich bin erst nach dem II. Weltkrieg im April 1947 geboren und hatte eine ganz, ganz andere Jugend. Trotzdem möchte ich mich mit aller Macht in die vergangene Zeit hineinversetzen, um so meine älteren Geschwister und die damaligen Gegebenheiten besser zu verstehen. Wie damals das Lebensgefühl für sie war, mit all den Veränderungen der verschiedenen Gesellschaftsformen. Jedoch so wie Margot mir erzählte, war für die Kinder fast alles einfach nur normal. Sie meinte "fast". Man kannte eben kein anderes Leben, und was ein Mensch nicht kennt, vermißt er auch nicht. Alle mußten die Wirklichkeit so annehmen, wie sie war, etwas Anderes wußten sie ja nicht.
An einem noch recht warmen Oktobertag im Jahre 1926 erblickte in Salem, nahe bei dem Städtchen Neukalen, ein kleines Mädchen das Licht der Welt. Es wurde auf den schönen Namen Margot getauft. Mutter Helene und Vater Franz waren stolz, daß es ein Mädchen geworden war, denn ein fast zweijähriges Söhnchen konnten sie schon ihr eigen nennen. Nun hatte der kleine Gerhard ein niedliches, süßes Schwesterlein. Allerdings mit dem Spielen war es so eine Sache für sich, weil es noch ein winzig kleines Baby war. Wie üblich in dieser Zeit wurden fast alle Kinder im Haus geboren. Die Hausgeburten liefen nicht immer optimal, aber in diesem Falle ging bei Helene alles gut.
Helene Behrendt, geb. Zientz
(geb. 7.12.1904 in Beuthen / Oberschlesien)
Franz Behrendt
(geb. 10.10.1902 in Bochow)
Die Eltern waren arm. Der Vater mußte als Schnitter sein Brot verdienen. Die junge Familie war bei den Eltern von Franz untergekommen. Diese waren aus dem Brandenburgischen nach Salem in Mecklenburg gekommen. Dort lebten sie schon einige Jahre und bewohnten die lange Schnitterkaserne. Im lang gestreckten Schnitterhaus waren schon einige Mitglieder der großen Familie untergekommen, so wie die Brüder Ernst und Wilhelm, auch ebenfalls die Tochter Anna, alle mit Familie. Unsere Mutter kam gebürtig aus Oberschlesien und zwar aus Beuthen. Dort waren sie und ihre Geschwister eine längere Zeit in einem Waisenhaus. Ihre Mutter, die Anastasia hieß, war geschieden, was damals nicht alle Tage vorkam. Eigentlich war so eine Scheidung in dieser prüden Gesellschaftsform eine wahre Schande. Früher war die Frau dem Mann untertan, denn der war meistens der Ernährer und Brotverdiener. Anastasia jedoch war für die damalige Zeit schon eine kluge und aufgeklärte, selbständige Frau, die ihren Lebensunterhalt mit allem was dazugehörte als Theaterschauspielerin bestritt. Mit sechs Kindern war es sicherlich nicht so einfach. Also wurden die Kinder vorübergehend im Waisenhaus untergebracht.
Großmutter Anastasia
Großvater Johann
Oma Alwine
Großvater August
Helene war die Älteste von ihren Geschwistern. Als sie vierzehn Jahre war, kamen Arbeitswerber und nahmen das junge Mädchen mit nach Mecklenburg. In der mecklenburgischen Stadt Waren wurde Helene einem praktizierenden Arzt übergeben, der das Mädchen als Hausangestellte zu sich nahm. So lernte die junge Helene die Arbeit und das Leben kennen. In den drei Jahren eignete sie sich nebenbei die Kenntnisse einer Arzthelferin an. Sie mußte dem Arzt mit einigen Handgriffen kräftig unterstützen. Helene lernte vieles, was sie auch später gebrauchen konnte. Die Arbeit machte ihr große Freude, solange, bis seine Frau starb. Danach war plötzlich alles anders geworden. Nach einer gewissen Zeit umwarb und bedrängte der sonst so rücksichtsvolle Arzt die junge Frau. Helene war gerade mal siebzehn und er fünfzig Jahre alt. Auf keinen Fall wollte sie sich ihm hingeben, denn geehelicht hätte er sie wahrscheinlich nicht. Bei Nacht und Nebel verließ sie das Haus und wanderte nur mit einem Bündelchen Leibwäsche die Landstraße entlang, bis sie nach Dahmen Rothenmoor kam. Im dortigen Gutshaus bekam sie nach langem Betteln eine Anstellung als Hausmagd. Das gute Leben hatte nun ein Ende, und trotzdem war sie froh darüber, daß Sie den alten Mann dadurch losgeworden war.
Obwohl der Alltag hart und die Gutsherrin launisch und ungerecht war, hielt sie das Ganze aus. Sie war jung und lebenslustig, so ließ sie sich nicht beirren und vor allem nicht unterkriegen. Trotz der schweren Arbeit gab es auch schöne Abende und Stunden, die sie mit den anderen Mägden und den Schnittern verbrachte. Manchmal hatten die Hausmägde die Pflicht, wenn die Getreideernte anstand, mit auf die Felder zu gehen. Die Garben mußten gebunden und zu Hocken aufgestellt werden, aber eben auch so andere Arbeiten machen, die anfielen.
Es gab eine Menge Schnitter, die für das Gut arbeiteten. Darunter waren auch einige junge, gut aussehende Mannsbilder. Der Bruder von Franz, der Ernst, war ebenfalls darunter, und er warb um die hübsche Helene. Die Brüder sahen sich fast zum Verwechseln ähnlich und dennoch hatte sie keinen Draht zu ihm. Wie es so ist, verliebte sie sich aber nicht in Ernst, sondern in den jungen Schnitter Franz. Der sonst so scheue Franz nahm all den Mut zusammen und sprach sie eines Abends an: "Na Frollein, wollen wir uns mal die Latüchte bei Nacht bejutachten?" Damit meinte er den Mond. Mutter erzählte es uns sehr oft und schmunzelte bei dieser Erinnerung. Es dauerte nicht allzu lange, bis die Liebe Früchte trug und sich ein Kindchen anmeldete. Jetzt war guter Rat teuer. Nun mußten die beiden Verliebten unbedingt fort. Ein unehelicher Balg, so wie die frostige Gutsherrin sich ausdrückte, konnte nicht auch noch mit durchgefüttert werden. Franz stand zu Helene und nahm sie mit zu seinen Eltern.
Begeistert waren Großvater August und Großmutter Alwine auf keinen Fall, als Franz seine Braut vorstellte. Das Schnitterhaus platzte bereits aus allen Nähten. Obgleich jede Familie eigene sehr kleine und dazu noch bescheidene Räumlichkeiten hatte, war es ganz schön eng. Man hatte absolut keinen Freiraum und saß sich manchmal zu sehr auf den Fersen. Dann kamen noch obendrein die beiden Verliebten hinzu. Es wären eben wieder zwei Fresser mehr am Tisch, wie der alte Hausherr etwas zynisch bemerkte. Helene war eine junge hübsche Frau und nicht gerade kräftig gebaut. Man sah ihr die Schwangerschaft noch nicht an. Rank und schlank und schüchtern stand sie vor ihnen. Die zukünftige Schwiegermutter beäugte sie von oben bis unten und sprach mit brandenburgischem Dialekt: "Na, lieber Franze, det Püppgen is ja so spindeldürre det kannste as Nippesfijur im Glasschapp stellen!"
Helene ließ sich davon nicht beirren und zeigte den beiden unfreundlichen Leutchen, daß sie hart arbeiten konnte. So eroberte sie nach einigen Wochen das raue Herz ihrer Schwiegereltern. Gut Ding will Weile haben. Mit der Zeit hatte sie dann aber ein einigermaßen gutes Verhältnis zu ihnen. Helene war stets freundlich und anpassungsfähig. Sie liebte ihren Franz innig und tat daher alles das, was ihre Schwiegereltern von ihr verlangten. Jedoch bald war es kein Geheimnis mehr, daß Helene schwanger war; denn es war ihr ja letztendlich anzusehen, daß ihr Bäuchlein immer molliger wurde. Die zukünftigen Schwiegereltern mußten eben damit leben, schließlich waren sie damals in ebensolcher Lage. Was die Urgroßeltern dazu sagten, entzieht sich meinen Kenntnissen.
Gerhard Behrendt, geb. 7.7.1925 in Beuthen / Oberschlesien
Margot Behrendt, geb. 10.10.1926 in Salem
Der kleine Gerhard kam auf die Welt und wie schon beschrieben danach Margot. Die Goldenen 20er Jahre waren schon in vollem Gange. Die Weimarer Republik wurde zur ersten Demokratie überhaupt. Ab 1924 gab es eine allgemeine Verbesserung der gesamten Lage. Die Rentenmark wurde eingeführt, und es folgte eine politische und wirtschaftliche Entspannungsphase. Zwischen 1924 und 1929 gab es dann ganz plötzlich einen gigantischen wirtschaftlichen Aufschwung in der weltweiten Konjunktur. Kunst, Kultur und die Wissenschaft hatten ihre Blütezeit. Ein anderes, neuartiges Lebensgefühl stellte sich ein. Im Mittelpunkt von Berlin und in den anderen Großstädten wurde gebaut, wie Teufel komm raus, und die meisten Menschen fühlten sich das erste Mal so richtig frei.
Else Müller, Mutter mit Gerhard und Margot
Margot und Gerhard
Dieses Lebensgefühl herrschte allerdings nur in den Metropolen. Auf dem Lande fühlten sich die einfachen Menschen noch lange nicht frei. Jedoch die kleine Margot bekam davon ja noch nichts mit und wurde von den Eltern behütet. Sie verbrachte die ersten Jahre hauptsächlich spielend mit ihrem Bruder Gerhard. Die beiden Kinder hatten sich lieb und so blieb die Geschwisterliebe, auch als sie beide größer wurden und dann später erwachsene Menschen waren, bestehen. Noch heute denkt sie manchmal mit Wehmut an die längst vergangenen Kindertage zurück. Aber auch an die spätere Zeit, wo Gerhard in den verdammten Krieg zog und ihm ein ungewisses Schicksal erteilt wurde. Bei diesem Thema stehlen sich die Tränen in ihre Augen, und sie wird dann ganz still und in sich gekehrt. Sie sagte zu mir: "Weißt Du, daß ich jetzt im Alter immer mehr an den Lebensfrühling denke? Man hat im Alter so viel Zeit zum Nachdenken und eigenartigerweise will man stets und ständig nur das Schlechte wegschieben. Jedoch, es steigt immer wieder im Bewußtsein hoch und drängt sich in den Mittelpunkt." Sie möchte doch allerdings nicht Klagen. Wenn diese Erinnerungen hochkommen und sie traurig machen, dann geht sie einer Beschäftigung nach, um schnell die Gedanken in eine andere Bahn zu lenken. "Viele alte Menschen wollen einfach nur vergessen, und sie können ganz einfach ihre Vergangenheit hinter sich lassen, da gehöre ich leider nicht dazu." Diejenigen sehen nur in die Zukunft. Es ist auf eine Art beneidenswert. Wir Geschwister sind solche Art von Menschen, die sich das Hirn zermartern und jede Kleinigkeit im Leben auflösen müssen. Sicherlich bringt es manchmal keine Punkte, denn, was einmal war, kann man nicht mehr rückgängig machen. Nur die Erinnerungen werden bleiben, ob gute oder schlechte.
Margot´s Schulklasse bei einem Ausflug
Wieder einmal gab es Zuwachs im Schnitterhaus und Töchterchen Hildegard wurde 1928 geboren. Danach waren die Eltern wieder fleißig und ein Kind nach dem anderen kam auf die Welt gepurzelt. Mutter sagte später einmal: "Ja, der Vater brauchte bloß seine Unterhose über den Stuhl zu hängen und bums war es schon wieder passiert."
Nach Hildegard kam Alwin 1930, dann die Helene 1933 und die Marie wurde 1935 geboren. Also hatten die beiden Schwestern Margot und Hildegard nach dem Schulunterricht die kleineren Kinder zu betreuen. 1932 wurde Margot eingeschult. Gerhard ging schon und Hildegard kam zwei Jahre später hin.
Hildegard Behrendt, geb. 4.7.1929 in Neukalen
Alwin Behrendt, geb. 20.9.1930 in Neukalen
Helene Behrendt, geb. 12.7.1933 in Neukalen
Marie Behrendt, geb. 14.3.1935 in Neukalen, mit ihrem Ehemann Reinhold
Die "Goldenen Zwanziger Jahre" waren nun endgültig vorbei und die Demokratie fast am Ende. Es wehte nun ganz langsam ein ganz anderer, ein herber Wind. Massenstreiks und Arbeitslose waren an der Tagesordnung. Das machten sich die Nationalsozialisten zugute und strebten nach der Macht. Sie versprachen den Menschen ein besseres Leben und machten damit ihre Propaganda. Von Tag zu Tag wurde es immer politischer. Die Erwachsenen waren alle wie aus dem Häuschen und enorme Anspannung füllte die Tage aus.
Reichspräsident Hindenburg machte Adolf Hitler 1933 zum Reichskanzler. Jedoch Hindenburg fehlte der Weitblick, denn er hatte auf das verkehrte Pferd gesetzt. Alles wurde plötzlich ganz anders. 1933 war die politische Wende. Hitler kam an die Macht, und auch in dem beschaulichem Dörfchen Salem und in der Stadt Neukalen hatten neue Leute das Sagen. Alle Menschen stellten sich irgendwie auf das jetzt so anders gewordene Leben ein. Wo man sonst in der Schule "Guten Morgen" sagte und ein Liedchen sang, hieß es jetzt zackig "Heil Hitler!" Es war schon für die Kinder ein bißchen komisch, jedoch sie gewöhnten sich daran.
Tatsächlich ging es nun langsam wieder aufwärts. Die Arbeitslosenzahl sank und es wurde gutes Geld verdient. Autobahnen wurden gebaut und in den Großstädten entstanden Wohnhäuser. Das Reichstagsgebäude wurde nach dem Brandanschlag im Februar 1933 vergrößert und verschönert. Organisationen, die die Menschenmassen lockten, bekamen großen Zulauf. Volksgemeinschaften wie die Hitlerjugend und der Bund deutscher Mädchen, Pfadfinder und mehr versprachen den Himmel auf Erden. In die HJ konnten die Kinder schon mit 10 Jahren eintreten.
Eigentlich wurde von den Kindern viel abgefordert, aber die meisten liebten diese Art von Beschäftigung. Turnvereine, Chöre und mehr wurden aus dem Boden gestampft. Margot war von solchen Vereinen nicht begeistert, denn sie mochte keinen Massenrummel im Gegensatz zu ihrem Bruder Gerhard. Sie war ein angenehmes, stilles Kind. Viel lieber saß sie mit Großmutter Alwine auf dem Plüschsofa und machte Handarbeiten. Außerdem hätte sie den weiten Weg nach Neukalen nochmals hin und zurücklaufen müssen.
Ein Hochgefühl bei den meisten Menschen machte sich überall breit. Angeblich schaute man jetzt wieder nach vorn und eine entschlossene Lebendigkeit stellte sich ein. Die Menschen waren durstig nach Arbeit, und der neue Machthaber verschaffte sie ihnen. Arbeit zu haben hieß, gutes Geld zu verdienen und damit auch ganz normal über die Runden zu kommen. Nach und nach konnten sich die Menschen schon ein bißchen mehr leisten. Adolf Hitler hatte sein Wort gehalten und so hielten auch die Menschen zu ihm. Vielleicht kann man die Leute von damals auch ein wenig verstehen, denn endlich kam ein Hoffnungsträger an die Macht. Heute darüber zu urteilen ist keine Kunst, ja, denn heute wissen wir mehr, was daraus geworden ist.
Ab jetzt sah man überall, auch auf dem Lande, die roten Fahnen mit schwarzem Hakenkreuz wehen. Plakate von Erwachsenen und Kindern der "Neuen Zeit" waren überall präsent, die glücklich in die Zukunft lächelten. Mit der Zeit veränderte sich das Verhältnis zu den Juden - bloß nicht zum Guten. In den Großstädten wurden sie regelrecht gejagt und verfolgt. Der Diktator wollte, daß sie unschädlich gemacht würden.
Die politische Lage war jedoch für die Kinder kein Thema, denn sie hatten andere Sorgen. Margot mußte schon vom ersten Tag an mit ihrem Bruder den langen Fußweg von Salem bis nach Neukalen laufen, und zwar auf klobigen Holzpantoffeln. Nun war für das kleine Mädchen die unbeschwerte Spielzeit vorüber. Bei Sonne und Regen, bei Hagel, Schnee und Sturm pilgerten sie immer den gleichen, unendlichen Landweg entlang. Es gab auch Ausnahmen, wenn Mutter oder Vater etwas erledigen mußten, so hatten sie ein bißchen Schutz. Sie trösteten sich aber, denn den anderen Dorfkindern ging es ja nicht besser. Herr Autrum war ihr erster Lehrer und die weiteren Lehrer waren noch Herr Grünwold, Herr Schmidt, Frl. Radöhl und die Handarbeitslehrerin Frl. Marquard. Die Lehrer waren alle streng und die Kinder hatten großen Respekt vor ihnen.
Margot und Gerhard befreundeten sich mit ein paar Neukalener Kindern, mit denen sie in einer Klasse gingen. Margots beste Freundinnen waren Ilse Kartanek und Gerdi Lüssow. Es hatte ihr aber auch ein freundlicher Junge angetan. Das war vom Stadtsekretär der Sohn, und er hieß Franz Kruse. Dieser begleitete Margot stets ein Stückchen des Weges, wenn Schulschluß war. Gerhard andererseits spielte gern mit Werner Becker und Werner Ahlgrim.
In den Pausen war immer was los und so neckten die Jungen, wie es auch noch heute üblich ist, zu gerne die Mädchen. Wie Kinder nun mal sind, machten sie auch etliche dumme Streiche. Sie steckten sich gegenseitig Juckpulver, aber auch Käfer in den Nacken oder banden den Mädels die Zöpfe zusammen. Wenn es dann anfing zu jucken, war kein stilles Sitzen mehr möglich. Manch ein Kind wurde von dem strengen Lehrer getadelt und bekam eine gehörige Strafe. Allerdings vergaßen die Kinder fix und das Gleiche fing den nächsten Tag wieder von vorne an. Die Jungen gaben nicht so schnell auf, Streiche zu machen. Natürlich suchten manche frechen Lausbuben auch ihre Opfer aus, die sie ärgern oder necken konnten. Darunter war auch Margot. Allerdings war es nicht das einzige Kind, das diese Strapazen auf sich nehmen mußte. Da kamen fast alle Schüler mal ran.
Damals gab es kleine Knaller zu kaufen, die sogenannten Lexen. Diese waren in einer roten Schachtel untergebracht. Eigentlich durften die Knaller nicht mit in die Schule gebracht werden. Jedoch das störte die meisten Jungen überhaupt nicht. Es war vor allem für die dreisten Knaben das größte Vergnügen die Lexenknaller mit voller Wucht auf den Fußboden zu zerdeppern. Margot lernte bei Großmutter Alwine emsig das Häkeln, Stricken, Nähen und Basteln. So konnte sie ihrer Handarbeitslehrerin schon einige Sachen, die sie liebevoll anfertigte, vorweisen. Fräulein Marquardt war davon sehr angetan und lobte ihre Arbeiten. Margot, die nun mal die Handarbeit liebte, fertigte schöne große, rote Wollbommel an, und diese befestigte sie auf ihre leichten Sommerschuhe. Als sie eines Tages damit in die Schule kam, war das Gelächter groß. In der Pause stellte sich ein dreister Junge auf den Schultisch und rief so laut wie er konnte: "Kiekt mol, dor steiht Magi mit dei Lexenschachtelschauh!" Er stänkerte immer weiter: "Denn hätt uns Magi ok ein Schlüpper an mit lurer roter Bommel dran!" Die Kinder grölten laut. Margot schämte sich und wäre fast in den Fußboden versunken. Ob sie die Schuhe mit den roten Bommeln trug oder nicht spielte keine Rolle mehr, denn den Namen "Magi mit dei Lexenschachtelschauh" hatte sie nun weg. Sie erduldete es tapfer und versuchte sich nicht bemerkbar zu machen. Margot war jetzt acht Jahre alt, und sie bekam schon mit, daß sich vieles in dem Städtchen Neukalen und selbst auf dem Dorf Salem veränderte.
Wie es im Leben so ist, überstanden die Kinder ihren Alltag vollgespickt mit Schule, Arbeit und auch ein bißchen Spielen. Ihnen war es noch egal, was in der Welt geschah. Im langen Schnitterhaus wohnten etliche Familien aus dem Behrendt Clan zusammen. Das Zusammenleben war manchmal nicht so einfach. Um eine gewisse Ordnung hineinzubringen, brauchte es einen starken Chef, und das war natürlich Großvater August. August war eher ein kleiner Mann, aber oho und sehr dominant. Dagegen war Großmutter Alwine ein Kopf größer und im Gegenteil hager, aber eine Seele von Mensch. Sie war dennoch die eigentliche Chefin und versuchte alles wieder mit Ruhe ins Lot zu bringen, wenn es einmal fürchterlich krachte.
Alle mußten hart in der Landwirtschaft arbeiten und natürlich auch die Kinder. Wenn die Schule aus war, hatten sie die Pflicht tüchtig mit Hand anzulegen. Margot mochte am allerliebsten mit der Großmutter zusammenarbeiten. Sie half dann die Garben binden und die Hocken aufzustellen, und das machte ihr Spaß. Auch wenn die Heuernte anstand, mußte jedes Kind ebenfalls mitarbeiten. Mit Pferd und Leiterwagen ging es dann ab zu den weit entfernten Wiesen. Die Kinder kletterten auf den Heuwagen, um das Heu herunterzutrampeln, welches die Männer hoch stakten.
Großmutter Alwine mit Margot beim Hocken aufstellen
Die in dem Haus lebende Familie Else Müller, schon eine Enkelin der Großeltern, bekam ebenfalls gehörig Zuwachs, und so wurden immer mehr Kinder geboren. Das war für die Kinder aus dem Hause Behrendt nur zum Vorteil, denn so leicht hatten es die anderen Dorfkinder nicht, wenn es Raufereien gab.
Der Glückstaumel beim deutschen Volk hielt solange an, bis 1939 der Krieg ausbrach. Selbst da noch waren die Menschen begeistert von Adolf Hitler und vom Krieg, da Polen in Blitzschnelle eingenommen wurde. Mit der Zeit verflüchtigte sich aber die Begeisterung beim einfachen Volk und schlug ins Gegenteilige. Jedoch, ihre Meinung zu äußern war unerwünscht. Das gegenseitige Anzeigen nahm zu. Keiner konnte mehr den anderen Menschen vertrauen. Die Angst nahm immer mehr den Raum ein, je länger der verflixte Krieg dauerte. Die Männer sollten nun reihenweise an die Front. Zuerst die blutjungen Kerle, die das Leben noch vor sich hatten. Der Bahnhof war voller Menschen, denn sie wollten ihre Söhne oder auch ihre eigenen Männer in den Krieg verabschieden. "Wir sehen uns demnächst wieder," riefen sie aus den Zugfenstern euphorisch ihren Familienmitgliedern zu. Es waren die ersten Freiwilligen, die den Neukalener Bahnhof in Richtung Polen verließen. So schnell sollte es jedoch damit nichts werden, denn der Krieg dauerte länger als sie sich vorstellten.
Mittlerweile war Margot schon dreizehn Jahre alt und Gerhard fünfzehn. Gerhard und die anderen Jungen bekamen von den Lehrern und den Jugendleitern eine totale Gehirnwäsche. Diese hatten die Aufgabe, den fast schon erwachsenen Jungen den Krieg schmackhaft zu machen. Wenn der Junge daheim war, verschanzte er sich in eine Ecke und formierte weiße und braune Bohnen zu zwei Parteien und spielte Krieg. Am liebsten wäre er lieber heute als morgen in den Krieg gezogen. Die Mutter beobachtete mit ängstlichem Blicken das Geschehen und ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Vielleicht hatte sie schon eine Vorahnung.
Mit großer Begeisterung trat er in die Feuerwehr ein und engagierte sich dort. Auch schon damals wollten sich die Halbwüchsigen beweisen, was sie drauf hatten. Gerhard war ein gut aussehender Junge, schwarze Haare, braune Augen und der Schwarm der jungen Mädchen. Leider aber, in dieser Zeit, hatte er nur ein Interesse für die Feuerwehr und für den Krieg. Nur mit solcher Denkungsart konnte man die männliche Jugend für ihre Ziele begeistern.
Nachdem die Familien im Schnitterhaus immer größer wurden, der Platz knapper, zogen die Großeltern nach Neukalen. Sie nahmen Margot mit, denn sie brauchten schon Unterstützung. Nun hatte das Mädchen es ein bißchen leichter, zumindest was den Schulweg anging. In dem kleinen Städtchen Neukalen war es schon etwas anschaulicher, als im Dörfchen Salem zu wohnen. Die Einkaufsmöglichkeiten waren besser und schneller abzuschließen. Es war also alles viel bequemer. Die Großeltern zogen in den sogenannten "Judentempel", der in der Wasserstraße stand, ein. Das war ein hohes Wohnhaus, welches aber wenig Wohnraum hatte. Für die Alten und Margot war es jedoch groß genug. Großvater August bekam eine Anstellung in der stadteigenen Ziegelei. Er konnte dort als Brenner arbeiten und nebenbei sollte er demzufolge die Kriegsgefangenen bewachen. Das war so richtig nach seiner Nase, denn das Kommando angeben, das konnte er besonders gut. Deswegen fand die Großmutter ebenfalls eine Anstellung. Sie wurde dort als Köchin eingesetzt.
Es dauerte nicht lange, so zog die junge Familie Behrendt ebenfalls nach Neukalen. Der Grund war hauptsächlich der, daß der Storch Mutter Helene erneut in das Bein gebissen hatte. Es war wieder einmal ein Mädchen und man nannte es schlicht und einfach Betty. Es war ein großes kräftiges Baby und wog sage und schreibe elf Pfund. Die Mutter hatte eine schwere Geburt und ihr Zustand war ziemlich kritisch, aber sie war eine Kämpfernatur und schaffte es. Viel, viel später sagte sie einmal zu uns: "Wenn es den Doktor Rademacher nicht gegeben hätte, wäre ich nicht mehr am Leben!" Sie war ihm sehr dankbar.
Mutter, Mariechen, Leni und klein Betty
Betty Behrendt
Das Lebensgefühl veränderte sich von Tag zu Tag, dennoch mußte es mit seinen alltäglichen Sorgen aber auch mit kleinen Freuden immer weitergehen. Margot hatte die Verpflichtung, für die Großeltern, aber auch für Mutter einkaufen zu gehen, die Wäsche waschen und kochen zu helfen. Es gab etliche Geschäfte und Einkaufsquellen in der Stadt Neukalen. Kaufmann Losehand, Kaufmann Schönrock, Kaufmann Fischer, Dethloff und Bäckerei Specht, um nur einige zu nennen. Die Schlachter, nicht zu vergessen. Diese verkauften alles, was zum Leben gebraucht wurde. Das Textiliengeschäft betrieb der nette Kaufmann Martin Bohn, der seine Modesachen elegant und mit Charme anbot, obwohl die wenigsten Leute sich die teuren Sachen leisten konnte.
Einige Gasthäuser waren ebenfalls vorhanden. Die Bahnhofsgaststätte mit dem Wirt Carl Nicolai, der 1937 starb und die von Jobst Wedekind übernommen wurde, erfreuten sich regen Zulauf. Hotel Dahms und Hotel Seemann konnte das Städtchen aufweisen. Walter Dahms kaufte das Hotel 1937.
Gasthof Tübbicke und die als "Zuckermus" bekannte Schenke Kottke ordneten sich in das Stadtbild ein. Natürlich war da auch noch die beliebte Gaststätte Wiechert an der Ecke, die der Neukalener Volksmund "Mausediele" nannte. Der Milchladen Maeting, die Apotheke mit Inhaber Carl Creutz, auch Uhrmacher Haaker gab es am Markt. Eine Badeanstalt hatte das Städtchen ebenfalls aufzuzeigen. Die Kinderschar von Familie Behrendt ging im Sommer oftmals baden, genau wie die anderen auch. Der Pächter damals war Erich Heiden. Er hatte die Jahrespacht mit 100 RM zu zahlen. Dafür verdiente er die Einnahmen des Badegeldes. Am Tag kostete derzeit eine Badekarte für die Erwachsenen 1,50 RM und die Kinder mußten 0,75 RM berappen. 1933 setzten die Stadtherren den arbeitslosen Otto Sänger als Badepächter ein. Viel Leben spielte sich an der Badestelle ab und hauptsächlich die Kinder tollten übermütig in der Peene herum. Im Hafenbecken zu baden war allerdings strengstens verboten und ebenfalls auch hinter der Eisenbahnbrücke. Das Springen von der Brücke wurde geahndet und noch etliche Verbote kamen hinzu. Der Badepächter Heiden, später auch Otto Sänger schwärzten viele Kinder beim Ratswachtmeister Kasch an und diese bekamen von ihm eine nicht gerade sanfte Ermahnung. Nacktbaden war ebenfalls strengstens verboten. Die Bademeister hatten eben die Verantwortung und sie durften auf keinen Fall etwas durchgehen lassen.
Der damalige Bürgermeister der Stadt Neukalen hieß Franz Ziegler. Die meisten Bewohner der Stadt waren mit Franz Ziegler zufrieden. Ausnahmen gab es natürlich auch. Er wurde 1939 ebenfalls an die Front geschickt und als Stellvertreter setzen sie den Stadtrat Johannes Röpke ein. Im Rathaus arbeitete ferner der geschätzte Stadtsekretär Franz Kruse. Wachtmeister Kasch dagegen sorgte für Recht und Ordnung, und die meisten Leute der Kleinstadt hatten verdammt viel Respekt vor ihm.
Von Otto Sänger wußte man in Neukalen ebenfalls so einige Dinge zu berichten. Er war einer der ersten Kommunisten, die sich in der Region festigten. Bereits 1915 wurde er als blutjunger Mann in den "Ersten Weltkrieg" geschickt, den er leidlich überstand. Um seine Kriegswunden auszukurieren, kam er nach Barmen - Elberfeldt auf Kur, und dort lernte er politische Sinnesbrüder kennen. 1920 kehrte er nach Neukalen zurück und wohnte in der Klosterstraße. Er schlug sich als Landarbeiter, ebenfalls auch als Badewächter durch und wurde oftmals arbeitslos. Erst 1929 ging sein seligster Traum in Erfüllung, denn mit Bernhard Quandt gründete Otto Sänger die KPD in Neukalen. Der "Rote Sänger", wie man Otto insgeheim noch nannte, befreundete sich mit Werner Westphal, und sie hielten gemeinsam auf dem Markt ihre Reden.
Als Adolf Hitler an die Macht kam, wurde es immer schwieriger sich als KPD Mitglied zu zeigen. Die Mitglieder wurden denunziert, und die "Geheime Staatspolizei" verhaftete Otto Sänger 1935 bei einer Versammlung in Güstrow. Dieses vertraute er Hermann Iben an, der es in der Festzeitung zur 700-Jahrfeier der Stadt Neukalen niederschrieb. Später wohnte er in der Ringstraße, und ich selbst kenne ihn als netten alten Herrn, der Kinder sehr mochte. Seine beiden Enkelkinder Udo und Sieglinde waren oftmals zu Besuch beim Großvater. Sieglinde war damals meine kleine Freundin. Als Kind wußte ich natürlich nicht, welch eine bekannte Person der beliebte Otto Sänger doch war.
Hans-Georg Behrendt, geb. 5.7.1941 in Neukalen
Nun möchte ich jedoch wieder zurück zu unserer Familiengeschichte kommen. 1941 war die Mutter wieder schwanger, und Hans Georg erblickte das Licht der Welt. Es war das erste Kind von Helene und Franz, welches im Krieg geboren wurde. 1939 ist zwar Betty geboren, doch schon im Monat Mai und da war noch kein Krieg. Sicherlich dröhnten schon die Pauken und Trompeten, und es rasselten die Säbel, aber erst am 1. September fing der Krieg an. Natürlich bekam Mutter Helene 1941 das Mutterkreuz im Namen Hitlers von der Stadtvertretung überreicht. Mit freundlichen Worten: "Gut gemacht, Frau Behrendt! Deutschland braucht Kinder und vor allem Jungen". Genau diese Worte hörte auch Margot. Die Familie wurde immer größer, und die vielen Mäuler wollten gestopft werden. Das war gar nicht so einfach, denn die Lebensmittel wurden immer knapper. Schon im September 1939 wurden für Fett, Fleisch, Butter, Fisch, Milch und Zucker die Lebensmittelkarten eingeführt. Danach bekam man auch Mehl und Brot auf Karten. Auf dem Lande war es noch einigermaßen zu verkraften, jedoch die Großstädter waren in großer Not. Viele besaßen zwar wertvolle Gegenstände, diese jedoch konnten sie nicht essen. Ja, Hunger tut nun mal verdammt weh. 250 g Butter kosteten 0,79 RM, Weizenmehl 0,44 RM, Fleisch, wenn es welches gab, 1 kg für 1,67 RM usw. Der Lohn pro Stunde für die Arbeiter machte 0,79 RM aus, und die Frauen bekamen nur 0,51 RM. Im Laufe der Kriegsjahre wurde es immer drastischer und knapper mit den Lebensmitteln.
Die Ordnung und Moral sollte hochgehalten werden, deshalb sorgten große Volksfeste, Kino, Theater, Zirkus und Sport für diverse Abwechslung und für allgemeine Belustigung. Kein anderer als der Propagandaminister Goebbels ordnete es von ganz oben an. Filme und Gassenhauer mit Johannes Heesters, Marika Rökk und Zarah Leander täuschten jedoch nicht darüber hinweg, daß es den Leuten wirtschaftlich und moralisch immer schlechter ging.
Auch in einer Ackerbürgerstadt wie Neukalen ging es, außer den Großbauern, den einfachen Arbeitern nicht gerade so rosig. Selbst Kartoffeln waren Goldstaub. Mutter konnte wegen der kleinen Kinder nicht jeden Tag arbeiteten, darum ging sie oftmals bei den Bauern als Tagelöhnerin. Dafür bekam sie aber kein Geld, jedoch wenigstens ein paar wenige Naturalien. "Zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel".
So kamen sie immerhin über die Runden. Ebenso das Stoppeln war möglichenfalls teilweise erlaubt, aber nur im Einverständnis mit den Bauersleuten. Klauen wurde hart bestraft. Margot und Hilde mußten die Kartoffeln so dünn schälen, daß aus den Schalen für den nächsten Tag dabei noch eine Kartoffelsuppe herauskam, mit Rübenblättern vermischt, natürlich ohne ein Gramm Fett. Margot erinnerte sich auch heute noch genau daran, daß alle Familienmitglieder die nächsten Tage einen flotten Durchmarsch bekamen.
Gleich 1939 wurde der Vater eingezogen, und für die Familie wurde es immer bitterer. Er mußte nach Frankreich. Weil er schon 37 Jahre alt war, brauchte Vater nicht mehr direkt an die Front und wurde als Schreiber im Hauptquartier in Frankreich eingesetzt. 1943 kam er unverhofft auf Fronturlaub nach Hause. Alle Familienmitglieder freuten sich riesig über den Besuch, jedoch der Abschied nach einigen Tagen war um so schwerer. Großmama Anastasia war ebenfalls aus Oberschlesien zu Besuch in Neukalen. Sie wollte unbedingt ihrer Tochter mit der ganzen großen Kinderschar zur Seite stehen und sie seelisch moralisch unterstützen.
Es war leider abzusehen, Gerhard ging 1943 freiwillig zur Wehrmacht. Er war ganz versessen darauf, mit dabei zu sein. Mutter kämpfte mit den Tränen. Sie verstand die Welt nicht mehr, warum ihr Ältester unbedingt in den Krieg ziehen wollte. Ihr erwachsener Sohn, der den Vater ersetzen sollte, ging nun auch noch fort. Sie war verzweifelt. Margot erinnerte sich noch schmerzlich daran, denn es war wohl der schwerste Tag in ihrem jungen Leben, als ihr Lieblingsbruder Gerhard mit einem armseligen Pappköfferchen in den verdammten Krieg zog.
Die älteren Kinder wurden nun Jugendliche und nahmen an Wuchs und Schönheit zu. Hauptsächlich Margot und Hildegard unterstützten die Mutter, die reichlich Arbeit mit den kleineren Kindern hatte. Wenn Mutter beim Bauern arbeitete, mußten die Großen sich um die Kleinen kümmern, anders ging es gar nicht. Margot war nun fünfzehn Jahre jung und hatte die Schule beendet. Etwa eine Lehre zu beginnen, war durch die Kriegswirren nicht möglich, also kam sie erst einmal in Stellung. Sie fing als Hausmädchen beim Schmied August Jörss an. Alles, was so im Hause anfiel, wurde ihr zugeteilt. Stuben, Küche und Keller putzen und dazu noch beim Kochen mithelfen. Die Eheleute Jörss hatten etliche Angestellte und außerdem noch einen Kriegsgefangenen, der Franzose war. Mit dem konnte sich Margot gut vertragen, denn er war, trotz seiner Gefangenschaft ein lustiger Typ. Philip aus Frankreich hatte stets einen Hasenfuß in der Tasche. Vielleicht konnte er nur so seine Sehnsucht nach der Heimat bewältigen.
Familie Jörss besaß einen großen Kater. Er war der Liebling der Hausfrau. Wenn die Schmiedegesellen noch gerne etwas mehr gegessen hätten, denn es waren alles starke Kerle, da gab es keinen Nachschlag. Allerdings der verfressene Kater bekam stets und ständig eine Portion mehr. Dieses wurmte den Franzosen, und wenn einmal sein Frauchen aus der Reichweite war, bekam er so manchen Tritt auf das Hinterteil. Jedenfalls war der Kater mehr wert als alle anderen zusammen. Überall konnte er sich hinlümmeln, keiner durfte ihn wegjagen und das wußte das schlaue Tier ganz genau. Die Eheleute Jörss wollten eines Tages ihre Verwandten besuchen und einige Tage dort bleiben, also fuhren sie schon am frühen Morgen mit dem Zug los. Nun hatte der arme Kater nichts mehr zu lachen. Philip, der auch der Koch des Hauses war, nahm ihn still und heimlich des Abends mit in den Stall, schlachtete das Tier und zog ihm das Fell über die Ohren. Freudestrahlend kam er in die Küche, schwang den armseligen, toten Kater vor Margot hin und her und meinte mit gebrochenem Deutsch: "Mademoiselle Margo, abe ich nich einen schönen Asen gefangen?" Er salzte und pfefferte den vermeintlichen Hasen und schmorte ihn im Backofen goldbraun. Margot erinnerte sich daran, dass es verführerisch duftete, aber dennoch kam ihr das große Würgen an. Am nächsten Tag waren die Schmiedegesellen erstaunt, daß es an einem ganz gewöhnlichen Tag so ein leckeres Hasenfestmahl gab. Jedoch sie langten kräftig zu und bekamen sogar noch einen Nachschlag. Nur Margot saß still da und aß nicht einen einzigen Happen. Als nun die Brotgeber zurückkamen, wurde dann der fassungslosen Hausfrau schonungsvoll vom Ableben des treuen Stubentigers berichtet. Ein großer, wütender Hund hätte ihn untergehabt und völlig in Fetzen zerrissen. Da war nichts mehr zu machen, und der Franzose hätte ihn eben verbuddeln müssen. Aber wo? Das wußte er beim besten Willen nicht mehr ganz genau.
Nach der Anstellung bei Schmied Jörss holte man Margot zum Arbeiten in die stadteigene Ziegelei. Großvater arbeitete dort schon bereits seit längerer Zeit und auch die Großmutter war als Köchin angestellt. In der Ziegelei arbeiteten viele Kriegsgefangene: Russen, Polen, Ukrainer und Franzosen. Margot und Hildegard mußten das Essen austeilen und Großmutter in der Küche unterstützen; jedoch mit den Kriegsgefangenen reden durften sie auf keinen Fall. Der bissige Großvater paßte höllisch auf, denn die beiden Mädchen waren jung und hübsch und die Gefangenen eben auch nur Männer. Irgendwie taten Margot diese armen Kerle leid, die im fremden Land für die Deutschen schuften mußten. In dieser turbulenten Zeit wunderten sich die meisten Menschen jedoch nicht mehr darüber. Irgendwann waren ihre Herzen kalt geworden.
Schon wieder mußten die Mädchen einen weiten Weg laufen. Durch das Gartsbruch bis hin zur Ziegelei waren es fast zwei Kilometer und das jeden Tag hin und zurück. Margot war ein wenig kräftiger und kleiner als ihre Schwester, die so zart und zerbrechlich wirkte. Hilde war ein großes, schönes aber blasses Mädchen und hatte mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Die Schwestern verstanden sich gut. Margots Motto war stets: "Wer sich mit mir nicht verstehen kann, ist selber daran schuld!" So blieb sie auch in ihrem weiteren Leben, immer höflich und liebenswürdig.
In der Stadt war ordentlich was los, überall Gerüchte vom baldigen Auftauchen der Russen. Die Ängste wurden zusätzlich geschürt. Allen geht es jetzt an den Kragen, dachten viele Leute. Manche fühlten sich im Geheimen auch mitschuldig. Die letzten Kriegswochen waren angebrochen. Stadtsekretär Franz Kruse sorgte noch dafür, daß die Neukalener Lebensmittelkarten und mehr Geld bekamen. Viel nützte es nicht mehr, denn es wurde ja alles noch knapper, aber es war eine gute Geste, und die Leute dankten es ihm. Überall hieß es, daß er ein guter Mensch wäre und sich redlich um sie sorgte.
Im heutigen Bürgerhaus von NeukaIen war damals ein Heeresbekleidungsamt eingerichtet worden, ein Zweig des Stettiner Bekleidungsamtes. Die Bewachung zog ganz plötzlich Ende April ab und daraufhin wurde ausgeräumt. Die Leute waren nicht zu bremsen und holten sich bündelweise Stoffballen, Fallschirmseide und Leinen. Ob sie es legal taten oder es durften, das wußte Margot nicht mehr genau. Auch Margot holte sich mit Leni und Mariechen etliche Garne und Stoffreste. Sie erinnerte sich noch genau an diesen Tag, weil die Tiefflieger mit lautem Getöse über die ganze Stadt flogen und Brandbomben abschmissen. Schnell rannten die Mädels voller Angst, wie die Hasen, mit dem Zeug unterm Arm nach Hause. Eine Brandbombe traf das Haus von Familie Federow. Der Rauch wurde immer dichter und zog nur langsam ab. Das war nicht das Einzige an Schlimmen, was damals so passiert war. Es gab noch viele traurige Schicksale in dieser von Leid durchzogenen Zeit. Trotzdem hatten die Neukalener großes Glück, daß sie nicht noch mehr bombardiert wurden. Die Stadt Malchin wurde stark bombardiert, zumal die linientreuen "Helden" sich nicht ergaben. Die Angst vor den Russen war überall zu spüren, denn keiner wußte genau, was auf sie zukam. Diese wurden bei den Menschen als Barbaren verunglimpft. Man kann es sich vorstellen, daß die Gerüchteküche fast überbrodelte. Viele Leute hatten auch gehört, daß ebenfalls die Deutschen im fernen Russland die einfachen Menschen nicht gerade schonten und sie oft auch umbrachten. Etliche Schandtaten drangen durch. Es sollte noch am Ende die Holzbrücke über die Peene gesprengt werden. Jedoch dazu kam es zum großen Glück nicht mehr. Die meisten Menschen rannten kopflos herum, oder sie verschanzten sich in ihrer Wohnung. Sie mußten geduldig abwarten, bis die ersten Russen das Städtchen einnahmen und das geschah sobald. Schon Wochen zuvor bahnte sich eine verschärfte wirtschaftliche Krise an und jeder normale Mensch ahnte bereits das Grauenvollste. Mit harter Arbeit und reichlichen Entbehrungen kämpfte die Familie ohne den Vater an der Seite ums Überleben. Sie waren trotz der Not bisher, eher schlecht als recht, über die Runden gekommen.
Hildegard Behrendt
Mutter Helene konnte nur froh sein, daß sie nun schon zwei erwachsene Töchter aufwies. Margot und Hildegard waren eben für die Mutter eine große Stütze. Die zugeteilte Milch oder andere Lebensmittel wurden immer knapper, dann gingen die Mädchen zu Fuß nach Malchin, um dort noch einiges für die kleinen Kinder zu ergattern. Bei Wind und Wetter marschierten sie die Chaussee unermüdlich die 25 km hin und wieder zurück. Manchmal mit Erfolg, andermal bekamen sie nicht eine einzige Tüte Mehl oder einen Tropfen Milch. Sie waren erschöpft und traurig zugleich, wenn sie in die verweinten und enttäuschten Kinderaugen blickten. Hunger tut so entsetzlich weh. Diese Strapazen zerrten ganz besonders an Hildegard. Es gab ja kein ausreichendes Essen, aber woher sollte sie wohl die Kraft hernehmen, die sie bei solchen harten Aktionen brauchte. Von Gerhard hörten sie fast nichts mehr. Ein einziges Mal bekam die Familie eine Postkarte geschickt. Darauf stand geschrieben, daß er zur Zeit kurz bei Großmama in Oberschlesien ist und daß er von dort aus dann nach Stalingrad an die Front muß. Mutter war die ganzen nächsten Tage unendlich traurig. Jedoch sie durfte hauptsächlich die anderen Kinder, vor allem die Kleineren, nicht dabei vergessen. Es war Ende 1944. Immer noch tobte der furchtbare Krieg. Am 10. Juli hörte das "Deutsche Volk" aus dem Volksempfänger, daß auf Adolf Hitler ein Attentat durchgeführt wurde, aber welches man abzuwehren wußte. Die Menschen machten sich so ihre Gedanken. Jetzt bekamen die Volksgenossen langsam kalte Füße, aber noch versuchten sie mit aller Macht, die braune Hakenkreuzfahne hochzuhalten. Die "Rote Armee" war im Herbst auf dem Vormarsch und drängte die Deutschen zurück. Am 30 April wählten Hitler und seine Frau Eva Braun den Freitod und begingen Selbstmord. Auch in den ländlichen Gebieten munkelte man, daß der Krieg wohl endlich sein Ende nehmen würde. Am 8. Mai 1945 wurde die Kapitulation unterzeichnet. Jedoch für die Menschen ging das Leiden immer weiter. Nun hatte die "Rote Sowjetarmee" bereits Berlin umstellt und eingenommen. Einzelne Truppen marschierten von einem Ort zum anderen. Augenblicklich war auch in der kleinen Ackerbürgerstadt Neukalen die Panik ausgebrochen. Die Obersten und die Nazianhänger des Städtchens und der Umgebung bekamen große Panik und flohen kopflos aus dem Ort und der gesamten Umgebung. Mit Sack und Pack und eigenem Pkw rasten sie, wie verrückt, aus Neukalen nach "Nirgendwo." Die Verantwortung wollten diese Leute nicht mehr tragen. Malchin brannte lichterloh. Bevor die ersten Russen eintrafen, ging die Rede in Neukalen herum: "Lüd´ schnell, schnell, hängt witte Bettlaken ut dei Finster!" Aus dem Kirchturmfenster hing schon eine weiße Fahne. Und so wie Margot berichtete, war die ganze Stadt in Windeseile in Weiß getaucht.
Mit den Russen kamen auch massenhaft Flüchtlinge und Vertriebene. So viele Menschen hatte Neukalen wohl noch nie zu Gesicht bekommen. Es war wirklich der totale Ausnahmezustand. In diesen tragischen Tagen war die Not ganz besonders groß. Man kann es sich nicht vorstellen. Nicht nur allein die Russen und Flüchtlinge kamen, auch die Infektionskrankheiten sowie Läuse und Wanzen kamen mit ihnen anmarschiert und marterten die Menschen. Lebensmittel, Seife und Waschpulver waren nicht mehr zu kriegen. Wie sollten sich da die Leute überhaupt pflegen? Mütter nahmen ihre Kinder bei der Hand und marschierten, weiße Tücher schwenkend, zu den Judentannen und zum Gartsbruch, um sich dort zu verstecken. Auch die Mutter, Margot und die Kinder waren mit dabei. Aus Angst vor den Russen nahmen sich etliche Familien, aber auch einzelne Personen, das Leben. Sie erschossen, vergifteten sich oder sie ertränkten sich im Fluß oder im Kummerower See. Ein stadtbekannter, angesehener und ruhiger Mann beging ebenfalls Selbstmord, als die Soldaten den Laden stürmten. Das war der Apotheker Creutz. Bei Dr. Richard Rademacher spielten sich furchtbare Szenen ab. Denn dorthin liefen viele Menschen, um sich im großen Keller zu verstecken. Sie hofften vom Doktor beschützt zu werden, aber auch seine Hände waren gebunden; trotzdem half er, wo er konnte. Ein kleiner Trupp Soldaten kam in das Haus der Eltern. Zwei Russen nahmen Leni und Mariechen bei der Hand und stürmten in den Laden von Kaufmann Bohn. Sie holten eine Anziehpuppe aus dem Schaufenster. Eigentlich konnten die Kinder mit dieser Monsterpuppe gar nicht spielen, diese war viel zu ungelenk. Im Haus angekommen, legte unsere Mutter das Ding unter das Bettgestell. Die Haustür ging weit auf, und die nächsten Soldaten stürmten herein. Leni schrie auf, plötzlich schaute ein Pferd mit dem Kopf in den Flur hinein. Sie sagte mir später einmal, daß sie das ihr ganzes Leben nicht vergessen würde. So etwas muß für ein Kind ein großes Trauma gewesen sein. Als Kind sieht man die Dinge ganz besonders übertrieben riesig. Die Soldaten suchten nach Nazianhängern und jungen Frauen. Voller Angst klammerten sich die Kleinsten, Betty und Hansi, an Mutters Schürzenzipfel. Brutal stieß einer die Mutter zur Seite, aber den Kindern haben sie Gott sei Dank nichts getan. Selbst die kleine Betty konnte sich noch ganz genau daran erinnern. Damals war sie gerade mal sechs Jahre alt. Ein etwas zu klein geratener Mongole fuchtelte mit dem Gewehr herum und schaute in jede Ecke des Hauses. Seine kleinen Schlitzaugen erforschten unruhig das Zimmer. Nichts entging seinen lauernden Blicken. Als er unter das Bettgestell schaute, brüllte er laut und schoss wie ein wild gewordener Dragoner drauf los, in der Hoffnung, einen Wehrmachtsoldaten getroffen zu haben. Danach wurde es mucksmäuschenstill. Nichts rührte sich, nur Stille, und letztendlich zog er die zerschossene große Schaufensterpuppe hervor. Seine Kameraden grölten, aber der Mongole wurde dadurch noch gereizter und schoss vor Wut nochmals drauf.
Die Russen waren besonders scharf auf Uhren, hauptsächlich auf Taschen und Armbanduhren. Bei Uhrmacher Haaker steckten sie sich sämtliche Uhren in die Taschen. Die Mutter besaß keine Taschenuhr, nur eine große Wanduhr, aber die war denen zu groß, denn sie mußten immer weiterziehen. Der nächste Tross raubte Eier, Speck, Mehl und Zucker bei den Kaufleuten. Bei Bäcker Specht klauten sie etliche Brote, und die Fleischer hatten ebenfalls nichts zu lachen, denn sie beschlagnahmten ebenfalls alles. Die Soldaten waren ja selbst gierig und total ausgehungert. All diese geraubten Lebensmittel schleppten sie zu etlichen Familien. Die Familie Behrendt war ebenfalls darunter. Sie zitierten Mutter zu sich und befahlen lautstark, schnell in die Küche zu gehen. Schlotternd vor Angst gehorchte sie, die kleinen Kinder immer im Schlepptau. "Matka, dawai, dawai du fix kochen! Aljoscha hat Hunger! Aljoscha sonst nich stark wie sibirischer Bär!" Ein anderer Soldat schaute auf die Kinder und sagte: "Du Mama charascho zu Kinder! Minja Matka auch charascho!" Die Mutter sah Tränen in seinen Augen schimmern. Unsere Mutter mußte für die Russen Eier mit Speck braten. Dann setzten sie sich an den langen Eßtisch und ließen es sich gut ergehen. Der Tisch war vollgemüllt mit Wodkaflaschen. Die Kinder bekamen ebenfalls zu essen. Margot meinte, daß die Soldaten in diesem Falle sehr kinderfreundlich waren. Das ist auf der anderen Seite aber auch das Gute für die Familie gewesen. Einer sprang vom Stuhl und zeigte auf das Bild des Großvaters mütterlicherseits. "Du charascho Frau, du da hängen Stalin an Wand!" In der Tat sah der Großvater dem Josef Stalin ein wenig ähnlich. Unser guter Großvater Johann trug allerdings eine Wachtmeisteruniform. Mit seinem benebelten Hirnkasten bemerkte der Russe wohl gar nicht den Unterschied. Nach dem Essen holte irgendeiner die Treckfiedel hervor und quälte die arme Quetschkommode fast zu Tode. Später waren alle sechs Russen stinkbesoffen. Einer von denen schlief schon am Tisch ein, aber die anderen Soldaten wurden immer mobiler. So regte sich auch bei denen die Männlichkeit. Matka: "Du nix da schöne Töchter?" Die Mutter verneinte ängstlich. Margot und Hildegard, die sich versteckten, hatten sich über dem Hinterhof heimlich davongeschlichen, um bei den Großeltern im Judentempel unterzutauchen. Diese konnten im Moment von Glück sprechen, daß sie übersehen wurden, denn bei solchen alten Leutchen vermuteten sie keine jungen Frauen. Überall in dieser wilden Zeit wurden die jungen noch ahnungslosen Mädchen, aber auch reife Frauen vergewaltigt. Da konnten sie sich manchmal noch so verstecken wie sie wollten, die Russen stöberten fast alle auf. Viele verkleideten sich als alte Frauen, oder flochten sich wie kleine Mädchen Zöpfe. Es gab aber auch ein paar wenige Frauen, die willig waren, wenn sie es auch hinterher abstritten.
Margot wurde später ebenfalls vergewaltigt. Sie war gerade neunzehn Jahre alt. Das ist so ein sensibles Kapitel, worüber sie eigentlich nicht reden wollte oder auch nicht konnte. Jedoch jetzt, wo sie 89 Jahre alt ist, wollte sie ihre Geheimhaltung beenden. Sie sagte mir folgendes: "Zwei Russen kamen in das Haus hinein. Sie suchten unten im Wohnzimmer nach jungen Frauen, aber dort fanden sie nur die Mutter, der sie nichts taten, da die kleineren Kinder weinten und sie umgaben. Stürmisch rannten sie die steile Treppe hoch und fanden Margot in ihrer kleinen Kammer, wo sie sich versteckte. Was eigentlich zwecklos war. Einer von denen war ein hoher Offizier und dieser wandte sich ihr zu. Der andere Russe stand stramm mit dem Gewehr und breitbeinig im Türrahmen, er paßte auf. Der Offizier nahm sie behutsam in die Arme und versuchte sie nicht zu derb zu nehmen. Margot hatte das Empfinden, daß dieser Mann ihr keine zu große Gewalt antun wollte. Danach eilte der andere Russe zu Margot. Doch der Offizier hob sein Gewehr und drängte mit Macht seinen tiefer gestellten Kameraden nach unten. Im Schlafraum lag Hildegard krank im Bett. Auch sie wurde bedrängt. Als der vom Offizier abgewiesene Russe sich näherte, zeigte sie ihre offenen Beine. Sofort machte er kehrt, denn vor Krankheiten hatten sie alle höllische Angst. Noch nach so vielen Jahren fiel es Margot schwer, über diese Gewalttaten zu reden. Aber sie konnte es nicht lange verschweigen, denn nach einer gewissen Zeit mußte sie es zugeben, weil sie dann schwanger wurde. Für Großvater August war das ein Debakel, obwohl er genau wußte, was ablief. Doch auch er mußte sich, ob er wollte oder nicht, damit auseinandersetzen. Er begriff absolut nichts. Er stieß böse Verwünschungen aus und hätte sie am liebsten geschlagen, wenn die Großmutter ihr nicht beigestanden hätte. Er mußte sich dennoch eingestehen, daß es sowieso nichts genützt hätte, auch wenn er sie noch so beschützt hätte. Wenn er es getan hätte, wäre er sofort ein mausetoter Mann gewesen. Es war Krieg, und es gab nur, "Ich oder Du."
Die kleine Christa wurde 1946 geboren. Es war die denkbar schlechteste Zeit für ein Kind zum Überleben, denn es gab kaum noch Lebensmittel. Das arme Kind ist leider unter keinem guten Stern auf die Welt gekommen. Margot konnte nicht lange stillen, und es gab keine Milch zu kaufen. Sie mußte schweren Herzens der Kleinen Schrot mit Wasser verdünnt als Brei geben. Margot hat das Kind von ganzen Herzen geliebt. Sie hegte absolut keinen Hass gegen den Verursacher dieser Tragödie. Was konnte das arme Kind dafür?
Vielen Müttern ging es so ähnlich, die in der Zeit ein Kind bekamen. Diese waren allesamt in großer Not. Die meisten waren Vergewaltigungs- oder Flüchtlingskinder. Die Milch mußte von den Bauern in die Peene gekippt werden, warum auch immer, und wer so etwas anordnete, wußte keiner so richtig. Diese Mangelernährung führte dazu, daß die kleine Christa 1947 starb. Unendliche Traurigkeit setzte sich in Margots Herz fest. Das Leben mußte weiter gehen.
In der kleinen Stadt ging alles drunter und drüber. Im Neukalener Rathaus wurde rasend geschwind die sowjetische Kommandantur eingerichtet. Das Einwohnermeldeamt und der Magistrat siedelten sich in dem Gastraum des Seemannshotels ein. Der Stadtsekretär Franz Kruse und noch einige andere Männer, die mit der ehemaligen Obrigkeit zu tun hatten, wurden brutal abgeführt und nach Neubrandenburg verschleppt. Aus der damals schon umstrittenen Kaserne der Wehrmacht "Fünfeichen" wurde ein Straflager, und wer dort hinkam, war so gut wie "Abgeschrieben." Die Gerüchteküche kochte fast über. Die Kommunisten waren auf dem Vormarsch. Es hieß, daß Werner Westphal, August Piepkorn, Otto Sänger und Herman Iben alle Bürgermeister werden wollten. Jetzt hatten sie ihr Ziel erreicht, waren endlich "Wer". Es war eine chaotische Zeit.
Margot und die anderen jungen Frauen in ihrem Alter hatten keine schöne Jugend. Jedoch sie mußten alle das Beste daraus machen und trotz der Entbehrungen hat sie ein hohes Alter erreicht. Kinder hat sie nie wieder bekommen, aber die von ihren Geschwistern hat sie alle in ihr Herz geschlossen. Noch heute danken es ihr die vielen Nichten und Neffen, die sie gerne besuchen. Das nur am Rande gesagt, denn ich möchte noch etliches schildern, was sie mir alles über ihr Leben und dem Kriegsende erzählt hat.
Die Typhusseuche wütete in der Stadt. Es war ganz erschütternd. Es wurden immer mehr Menschen krank, und Doktor Rademacher wußte nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Aus der ehemaligen Gaststätte Haase wurde eine provisorische Typhusstation errichtet. Was sich dort abspielte, war schrecklich. Fast jeder der dort hinkam, war ein Todeskandidat. Auch bei der Familie Behrendt machte leider diese Krankheit keine Ausnahme. Mutter Helene wurde 1946 mit Verdacht auf Typhus eingeliefert. Man brachte sie mit einem Leiterhandwagen dort hin, weil sie so schwach und elend war. Mit auf die Station mußte auch der kleine Hansi, denn er war gerade mal vier. Der Junge war nicht krank, aber er brauchte seine Obhut. Es war ein Wunder, daß er sich nicht ansteckte. Leni war zwölf Jahre alt und Marie zehn. Sie mußten sich um die kleine Betty und den Haushalt kümmern. Margot hatte zu dieser Zeit ja noch das Baby, und Hilde ging es gesundheitlich ebenfalls nicht besonders. Die Großmutter und Margot schauten jeden Tag vorbei, denn sie wohnten alle in der Wasserstraße. Alwin war zwar schon 15 Jahre, aber er war eben ein Junge und hatte keine Ambitionen sich um den Haushalt zu kümmern. Endlich durfte die Mutter wieder zu ihren Kindern, denn der Verdacht hatte sich nicht bestätigt.
Im Sommer 1946 kam der Vater nach Hause. Er kam eigentlich schon Ende 1945 aus Frankreich, machte aber Halt bei seiner Schwester Alwine in Uelzen. Im Westen waren ja die Alliierten, und es ging da schon ein bißchen voran. So verdiente er sich schönes Geld. Warum er nicht gleich nach seiner Familie fuhr, kann Margot nur vermuten. Seine andere Schwester Betty Bernhardine wohnte eigentlich in Berlin, aber als die Russen Berlin stürmten, fuhr sie zu ihren Eltern nach Neukalen. Sie selbst hatte keinen Lebenspartner und konnte sich die Zeit vertreiben. Wahrscheinlich mit den Russen. Deshalb schilderte sie ihren Bruder brieflich wohl die chaotischen Zustände in Neukalen mit den Russen im Hause Behrendt. So glaubte der Vater wohl anscheinend diese ganzen Verleumdungen, die sie auftischte. Auch schon damals gab es immer irgendwelche Mitbürger, die gestänkert haben und wenn es in der eigenen Familie war. Die Eheleute sprachen sich lange aus und Mutter stellte so einiges klar. Ja und was war dann geschehen? Er war doch wohl einsichtig, denn die vernünftige Versöhnung kam in Form einer Schwangerschaft. Die Eltern erwarteten mit mehr oder weniger Freuden das neunte Kind.
Edeltraud Behrendt, geb. 4.4.1947 in Neukalen
Edeltraud Behrendt
Man muß einfach nur staunen, wie Mutter die Schwangerschaft gepackt hat. Allen anderen schwangeren Frauen ging es ebenso in dieser erbarmungslosen Zeit. Gerade 1946 und 1947 gab es kaum Lebensmittel. Wie sie das alles verkraftet hat, manchmal ohne Essen und den notwendigen Vitaminen ein Kind auszutragen, ist mir ein Rätsel. Sie war eben eine Kämpfernatur. Im April 1947 wurde die kleine Edeltraud geboren. Dieses Kind hatte ebenfalls einen schweren Start in das Leben, denn Milch war auch noch 1947 Mangelware. Zum Glück konnte die Mutter das Kind lange stillen, sonst wären diese Aufzeichnungen nicht möglich gewesen. Es überlebte. Gerade in dieser miesen Zeit mußten die Eltern zusehen, wie sie an Lebensmittel herankamen. Unsere Mutter erzählte so oft, daß sie heimlich, mit noch ein paar mutigen Frauen im Dunkeln sich auf die Äcker geschlichen haben und Kartoffeln, Zuckerrüben oder Getreideähren stahlen. Die Frauen nahmen in Kauf, daß die Russen sie entdecken würden. Für den Vater war das ein Albtraum. Er wußte um die Gefährlichkeit dieser Vorhaben, und er hatte Angst um seine Frau. Jedoch die Frauen ließen sich nicht beirren, denn diese dachten an die hungrigen Kindermäuler. Es gab auch so etwas wie Solidarität. Der Nachbar, Neukalens Stadtförster August Piepkorn, der gegenüber der Familie Behrendt wohnte, brachte Muttern einen Wildschweinkopf, und daraus kochte sie einen großen Eisentopf voll Eintopf. Es war das beste und leckerste Essen, welches sie zu sich nahmen. Wenigstens war das Gericht mit Fett gekocht und so hauten sie alle ordentlich rein, bis sie satt waren.
In den darauffolgenden Jahren ging es wieder jeden Menschen wirtschaftlich etwas besser. 1949 wurde die DDR gegründet, im Westen die BRD. Es zeichneten sich jedoch große Unterschiede ab. Der Osten war total in Russenhand, aber der Westen hatte das bessere Los gezogen und bekam unter anderem mehrere Besatzungszonen. Amerikaner, Engländer und Franzosen hatten ein Wort mitzureden. Trotzdem war die Not noch immer groß. Die Menschen mußten in der Nachkriegszeit besonders schlau sein und improvisieren können. Der Schwarzmarkt in den Großstädten trieb seltsame Blüten. Zu Tausenden stürmten die Großstädter aufs Land, um geschobene Waren gegen Lebensmittel zu tauschen. Sie konnten ihre Klamotten ja nicht essen. Ja, die ersten Nachkriegsjahre waren besonders hart. Der Überlebenswille der Menschen war stark. Die Eltern taten sich mit einigen Nachbarn zusammen und machten aus den nachgesammelten Zuckerrüben Sirup, oder sie brannten daraus Schnaps.
Die Familie wartete ergebnislos auf ein Lebenszeichen von Gerhard. Viele Heimkehrer kamen aus dem Krieg, nur auf ihren Sohn und Bruder warteten sie vergeblich. Für die Mutter war der Zustand kaum zu ertragen. Selbst bis in die 60er Jahre durfte kein Wort mehr über Gerhard gesprochen werden. Alle hielten sich daran. Vater war ein stiller Mensch. Er sprach nie über den Krieg und was ihm widerfahren war. Er fraß die Sorgen und Ängste in sich hinein. Dadurch aber stellten sich bei Vater auch erhebliche Gesundheitsschäden ein. Er aber verschloß sich immer mehr und klagte über Magenschmerzen und Bandscheibenprobleme, eher lautlos. Man sah es ihm an, das es ihm nicht gut ging. Mittlerweile war Vater 45 Jahre, und die Mutter hatte noch mit fast 43 Jahren die Kleine geboren, und das alles in dieser schweren Phase. Es war wohl hart, in diesem Alter und dieser schlimmen Zeit ferner noch ein Kind großzuziehen. Sie mußten das Leben, wie es kam, einfach so annehmen. Er arbeitete noch ein paar Jahre in den sumpfigen Gräben und nebenbei auch beim Bauern. Hauptsächlich half er bei der Rübenernte, solange, bis es gesundheitlich absolut nicht mehr ging, und er dann Invalidenrente bekam. Dennoch sorgte er stets für die Familie, bearbeitete einen Garten und fischte im Kummerower See. Nun hatten wenigstens alle genügend zu essen.
Alwin, Betty, Hildegard, Hansi und Mutter Helene
Inge Hopp, Hildegard, Marie und klein Edeltraud
Schwester Hildegard erkrankte schwer an Typhus. Das zarte Mädchen hatte es nicht geschafft, gesund zu bleiben. Es war ein harter Schlag für die Eltern, hauptsächlich für die Mutter. Sie war am Boden zerstört, zumal auch ihr ältester Sohn Gerhard sich noch nicht zurück aus dem Krieg gemeldet hatte. Das letzte Mal kam noch ein Brief an, der an Margot geschrieben war, mit lieben Grüßen aus Karelien und einen 10 RM Schein zum Geburtstag seiner kleinen Schwester Marie. Davon sollte Margot ihr etwas Schönes kaufen. Er hoffte doch, endlich bald aus dem Krieg zu kommen. Er beklagte sich darüber, daß die Soldaten jeden Tag Alkohol trinken mußten, den er so entsetzlich haßte. Die Angst der Soldaten sollte damit abgestumpft werden. Danach kam kein einziges Lebenszeichen mehr von ihm. Als Margot den Brief vorlas, ahnten sie alle, was Gerhard und die anderen Soldaten mit durchmachen mußten. Viele Soldaten und Kriegsgefangene waren schon längst zu Hause, und so hofften sie inständig, daß er wieder zurück kommt. Diese Sorgen belasteten die ganze Familie.
Irgendwie lief trotzdem alles weiter, sie konnten sich nicht gehen lassen, denn die kleineren Kinder und das Baby brauchten dringend die Mutter und den Vater. Margot war sowieso in Trauer um ihr geliebtes Kind, und in dieser Zeit waren alle mutlos, denn sie dauerte unendlich lange. Kein Glück, kein Hoffnungsstern sandte eine frohe Botschaft in das so gezeichnete Haus. Es wurden immer mehr schwerkranke Menschen. Doktor Rademacher und seine Mitarbeiter taten das Beste, um den armen Menschen zu helfen, aber auch da gab es Grenzen. Seine Hände waren gebunden, denn es fehlte die lebenswichtige Medizin.
Margot besuchte ihre Schwester Hilde fast jeden Tag auf der Typhusstation. Mit großen braunen Augen, mit dunklem Schatten darunter, blickte Hildegard zur Tür, wenn die Schwester zu Besuch kam. Margot organisierte immer irgend etwas Schönes für ihre Hilde. Ob es etwas Süßes war oder auch gekochte Eier. Hilde freute sich sehr darüber, jedoch essen konnte sie es nicht mehr. Wenn Margot ihre Schwester besuchte, dann erzählten sie sich von ihren schönen Kindertagen. Margot wird nie im Leben vergessen, wie Hildegard mit schwacher, dünner Stimme ihr Lieblingslied sang:
"Kommt ein Vogel geflogen,
setz dich nieder auf meinem Fuß.
Hat ein Zettel in dem Schnabel,
von der Mutter einen Gruß.
Lieber Vogel fliege weiter,
nimm ein Gruß mit und ein Kuß.
Doch ich kann dich nicht begleiten,
weil ich hier bleiben muß.
In Margots Augen schwammen die Tränen. Sie mußte schluchzen, ihr Herz tat vor Gram weh. Hildegard mußte mit nur 19 Jahren sterben. Ihr war es nicht vergönnt zu lieben, zu flirten und mit einem Partner glücklich zu werden. Sie hat in ihrem jungen Leben so vieles aushalten müssen, und ist dann als schöne, schwarze Rose in die Ewigkeit gegangen.
1947 und 1948 war das Jahr der Toten. Erst starb die kleine Christa, danach Hildegard, dann Großvater August 1948 und im gleichen Jahr Großmutter Alwine. Es war unvorstellbar, aber es ging vielen Familien in dieser erbarmungslosen Zeit ebenso. Die Mängel der vergangenen Jahre waren einfach zu brutal und bei vielen Menschen streikte das Abwehrsystem. Was Margot, die Eltern und meine anderen Geschwister alles erleben mußten, bekunden doch hohe Achtung und Anerkennung. Sie mußten mit all den furchtbaren Grausamkeiten leben, und sie haben sich nicht unterkriegen lassen. Das jüngste Kind hat doch schon eine bessere Zeit erlebt, auch wenn es im Vergleich zu heute auch noch eher hart war. Wir wissen jedenfalls noch jeden Krümel Brot zu schätzen, und wir haben Achtung vor der Natur und vor dem Leben. Die Geschwister allerdings haben in einer ganz anderen Zeit leben müssen. Etliche Geschwister sind schon gestorben. Gerhard, der nicht wieder aus dem verdammten Krieg zurückkehrte, und Hildegard, die zarte Schöne, starben viel zu früh. Bruder Alwin ist 1983 von uns gegangen, ebenfalls Schwester Marie ist schon tot und Hansi haben wir 2014 zu Grabe getragen. So ist nun mal das Leben, jedoch die Erinnerungen bleiben in unseren Herzen.
Diese Zeilen sind schwer zu schreiben, aber wir müssen uns der Endlichkeit bewußt sein. Ich möchte auch daran erinnern das unsere Eltern mit dem, was sie alles durchmachen mußten, trotzdem noch ein hohes Alter erreichten und auch noch ein paar gute Jahre miterlebt haben. Wir werden stets an sie denken, denn sie haben uns das Leben geschenkt. Danke!
Es sind hauptsächlich von Schwester Margot die Erinnerungen, die ich aufgeschrieben habe. Doch auch die anderen Geschwister, Eltern und Großeltern standen mit im Brennpunkt. Nur so konnte mit all den anderen Familienmitgliedern die Zeit wieder lebendig werden. Hoffentlich ist es mir gelungen, obwohl ich noch nicht geboren war, mit dabei gewesen zu sein. Manchmal habe ich mich beim Schreiben so gefühlt, weil ich von Kindesbeinen schon alles über die Vergangenheit meiner Familie wissen wollte. Meine Schwester Margot hat trotz der Entbehrungen ihr spätes Glück gefunden. Sie lebt schon seit vielen Jahren mit ihrem Mann Fritz glücklich und stets zufrieden in Malchin. In der heutigen Zeit ist es etwas Besonderes, denn je besser und begüterter es den Menschen geht, um so unzufriedener werden sie. Trotz all den schlechten und unruhigen Zeiten, ist sie schon so alt geworden, macht noch immer ihre geliebten Handarbeiten und neuerdings auch das Pusseln, und dieses alles ohne Brille. Sie zeichnet eine erstaunliche Zufriedenheit aus. Manchmal denke ich, man braucht nicht viel im Leben zu haben und zu besitzen, eben nur unwahrscheinliches Glück, Gesundheit und Selbstzufriedenheit. Sie wurde in den "Goldenen Zwanzigern" der Weimarer Republik geboren, hat die braune Hitlerzeit mit all dem Schlimmen überstanden. Sie hat die umstrittene, dennoch friedliche DDR-Zeit mitgemacht und die Vereinigung von Ost und West gut überstanden. Es gab auch glückliche Tage. So wünsche ich ihr, daß sie die Hundert noch in Gesundheit, Frieden und Freude erreichen möge. "Magi mit dei Lexenschachtelschauh" ist für mich bereits eine Legende. Ich wünsche ihr weiterhin unendlich viel Glück.
Es wären noch so viele Worte zu schreiben, doch nun soll es genug sein. Sicherlich wird sie auch ein kleines bißchen in ihrem Herzen für sich behalten, und das soll genau so sein. Margot hat mir ihre Seele geöffnet, hat mich teilnehmen lassen, Seite an Seite mit ihr durch ihre Kinder- und Jugendjahre zu gehen. Dafür bin ich ihr und ebenfalls meinen anderen, noch lebenden Schwestern, dankbar. Es ist doch schön, Geschwister zu haben. Wenn wir uns zu Familienfeiern treffen, kommen immer wieder die damaligen Zeiten zur Sprache. Wenn auch unsere Kinder es noch nicht ganz verstehen, eines Tages werden auch sie sich an ihre eigene Vergangenheit erinnern, denn das Leben ist kurz. Wir Menschenkinder sind nur klitzekleine Lichtchen, nur ein Fünkchen im unendlichen Universum. Ja, wir sind kleine millionenfache Pflänzchen, die sich den unbarmherzigen, starken Stürme des Lebens und der Natur unterwerfen müssen.
Deine Schwester Edeltraud.
Meine Familie
Margot als umschwärmte junge Frau
Margot Behrendt mit Katze
Margot, Evelyn und Edeltraud
Margot und Fritz
Silberhochzeit der Eltern
Goldene Hochzeit der Eltern
Die Autorin Edeltraud Kock, geb. Behrendt wurde am 4. April 1947 in Neukalen geboren. Sie besuchte von 1953 bis 1962 die Schule in Neukalen und erlernte dann in Kittendorf den Beruf einer Geflügelzüchterin. Ab 1968 war sie Leiterin der Kosumgaststätte "Hohes Holz" in Teterow. 1991 übernahmen Frau Kock und ihr Ehemann privat die Gaststätte, und hier ist sie auch heute noch als Köchin tätig.
Als Autorin hat sich Frau Kock schon mehrfach schriftstellerisch betätigt und drei lesenswerte Bücher verfaßt: "Eselkraut", "Ein kleines Haus am Wald" und "Die unglaublichen Abenteuer der Angie M."