Der Ameisenlöwe
Dr. Helge Nagel
Mitunter sind es die kleinen Dinge, die uns sowohl Freude bereiten als auch interessant sind.
Gleich neben unserem Städtchen, das nebenbei bemerkt vom Flugzeug aus betrachtet aussieht, als wäre der Grundriss einem Geschichtslehrbuch entnommen, erhebt sich der Mühlenberg. Na gut, Berg ist ein wenig übertrieben. Es ist nur ein kleiner Hügel, der aber immerhin auf 20 bis 30 m über den See, also annährend NN ansteigt.
Blick auf den Mühlenberg
Auf diesem Hügel steht eine Windmühle, die schon lange keine Flügel mehr hat. Daneben beginnt ein Wäldchen, das Mühlenwäldchen. An der oberen, der Mühle zugewandten Seite, gibt es in diesem Wäldchen eine kleine Schlucht, die von niemandem sonderlich beachtet wird. An der Ostseite der grasbewachsenen Senke stehen hohe Kiefern. Die Westseite ist am Rand ein wenig steiler und wird von Laubbäumen begrenzt. Dort ragt an einer Stelle die zum Sitzen ausreichend große Wurzel einer Randpappel etwas über die Kante der Böschung. Und hier hatte ich es mir bequem gemacht. Meine Frau pflückte Blumen in den umliegenden Wiesen. Die Wurzel bot auch genügend Platz, um mein Pfeifenzubehör darauf auszubreiten.
An den Tag kann ich mich noch gut erinnern, es war der 31. Mai 1996. Die Sonne wärmte angenehm und es war fast windstill. Sekundenlang blieb der Rauch meiner Pfeife in der Luft stehen bevor er sacht hinweggetragen wurde. In letzter Zeit hatten sich die Ereignisse wiedermal überstürzt. Gedankenverloren wanderte mein Blick über die Kiefern der gegenüberliegenden Hangseite. Dort konnte ich schon zwei Mal einen Schwarzspecht beobachten. Sonstwo hätte ich ihn vermutet, nur nicht in diesem winzigen Wäldchen, das vom großen Forst losgelöst inmitten von ausgedehnten Wiesen steht. Aber ein Schwarzspecht war an jenem Nachmittag nicht zu sehen.
Hier in der kleinen Senke im "Mühlenwäldchen" entdeckte ich die Ameisenlöwen
Mein Blick wanderte weiter und fiel auf eine kleine Sandfläche unmittelbar unter der Wurzel, auf welcher ich saß. In diesem trockenen, eieruhrartigen Sand entdeckte ich mehrere kleine Vertiefungen. Sie hatten einen Durchmesser von 3 bis 5 Zentimetern und einen Gefällewinkel von nahezu 45 o. Innerhalb dieser winzigen Trichter sowie am oberen Rand war der Sand besonders fein. Wie kommen nur solche akkurat gezirkelten Trichter in den Sand? Diese kleinen Löcher lagen dicht bei meinen Füßen, ich beugte mich hinunter, um sie genauer zu betrachten. Es war nichts Auffälliges zu sehen, und ich setzte mich wieder auf meine Wurzel, behielt die Löcher aber nebenbei im Auge. Bald fiel mir auf, dass von den Trichterwänden von Zeit zu Zeit Sand herunterrieselte, obwohl es nirgends eine Bodenerschütterung gab. Also kauerte ich mich wieder vor die kleinen Sandlöcher, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Und siehe da, aus der Spitze des Trichters schleuderte ein winziger Arm in unregelmäßigen Abständen Sand auf die schrägen Wände, der sofort wieder zur Spitze hinunterkullerte. Was da im Sand eingegraben saß, schien ein Insekt zu sein. Eigenartig, so etwas hatte ich noch nie gesehen, und was für einen Sinn sollte das Ganze haben? Da diese Gebilde rund um meine Füße lagen, konnte ich sie auch im Sitzen weiterhin gut beobachten. Nachdenklich paffte ich einige Wolken in die nachmittägliche Stille. Irgendwie hatte ich davon schon mal etwas gehört, nur wo und in welchem Zusammenhang?
Nach einiger Zeit gelang es mir, die Bruchstückchen aus meiner Erinnerung zusammenzufügen. Da hatte doch vor über 30 Jahren ein Naturfreund aus Sachsen begeistert von einem Mecklenburgurlaub berichtet. Damals fiel auch zum ersten Mal der Begriff "Ameisenlöwe".
"Wenn sich zufällig", so erzählte er, "ein Insekt auf die schrägen Wände verirrt, wird es von unten aus der Trichtermitte mit feinem Sand beschossen, kann sich an den rollenden Sandkörnern nicht festhalten und gerät direkt in die Fänge des Löwen." Natürlich funktioniert das nur bei Insekten, die nicht fliegen können, wie z. B. bei Ameisen, daher auch der Name Ameisenlöwe. Um das auszuprobieren, setzte unser Bekannter extra eine Ameise auf den Trichterrand und beobachtete genau wie das Raubinsekt mit seiner Beute verfuhr. Dazu konnte ich mich allerdings nicht entschließen, das wollte ich dem armen Tier nicht antun.
Wie so oft in der Natur spielt sich auch hier der Reigen "fressen und gefressen werden" in kaum beachteten Dimensionen ab.
Ein Ameisenlöwe sieht aus wie ein kleines Monster und ist die Larve einer Ameisenjungfernart. Was ist denn nun wieder eine Ameisenjungfer, möchten Sie wissen. Nun, eine Ameisenjungfer ist ein nachtaktives libellenartiges Insekt, das sich ebenfalls räuberisch ernährt und im Wesentlichen in tropischen Gebieten vorkommt. Von den circa 1200 Arten gibt es bei uns nur ganze sechs. Weiter möchte und kann ich nicht in die Tiefe dringen, denn die Klasse der Insekten ist schier unerschöpflich. nur eines möchte ich noch richtigstellen. Der Arm, der den Sand auf die Trichterwände schleuderte, ist in Wirklichkeit der mit einer Fresszange ausgestattete Kopf der Larve.
Die Senke, in welcher ich die Ameisenlöwen beobachtete
Mit einem kleinen Wiesenstrauß in der Hand kam meine Frau vom Blumenpflücken zurück. Einen Moment betrachteten wir gemeinsam die bis dahin uns unbekannten Sandlöcher. Den Ameisenlöwen selbst bekamen wir nicht zu Gesicht. Er flüchtete sich bei dem Versuch ihn zu fangen in tiefere Bodenschichten.
Die Sonne war weitergewandert. Der beschauliche Nachmittag neigte sich dem Abend zu, es wurde Zeit zu Gehen. Auf dem Heimweg freuten wir uns über den schönen Tag und über eine neue Entdeckung in der Natur.
Selbst die Wurzel. auf der ich 1996 saß, gibt es noch