Erinnerungen
Rudolf Rötlich
(geb. 22.11.1934, gest. 22.6.2021)
In Ergänzung zum Thema "Flucht und Vertreibung aus dem Hauerland" schrieb Herr Rudolf Rötlich 1) aus Sindelfingen den folgenden Erlebnisbericht:
Wir wurden 1946 in das Lager Nowak deportiert und wurden dann praktisch als Flüchtlinge angesehen. Das stimmt ja nicht so. Wir waren keine Flüchtlinge, wir sind nicht geflüchtet, wir wurden davongejagt.
Wir waren eine Zeitlang im Lager Nowak. Dann wurden Transporte zusammengestellt, und wir wurden in Viehwaggons verladen. Es waren immer in jedem Waggon ca. 30 Personen. Diese Waggons wurden dann auf dem Bahnhof Nowak verplombt und wurden erst geöffnet, nachdem wir die Grenze zu der damaligen sowjetischen Zone bei Bad Schandau überschritten hatten. Wir wurden dann in Bad Schandau in normalen Personenwagen umgeladen und wurden dann mit der Eisenbahn über Dresden, das war eine total zerbombte Stadt, nach Malchin gefahren. Wir kamen in Malchin in dem sogenannten Durchgangslager an, wo wir eigentlich 14 Tage hätten in Quarantäne leben sollen. Das kam dann aber anders. Meine Schwester hatte sich bei einer Reinigung von einer Baracke, in welcher vorher Personen mit Typhus lebten, angesteckt und deshalb mußte der ganze Transport vier Wochen im Lager Malchin bleiben. Meine Schwester ist dann im Krankenhaus in Malchin auch an Typhus gestorben.
Das Lager Malchin befand sich rechts neben der Zuckerfabrik. Es waren Baracken. Ich weiß nicht, ob diese noch von Hitlers Zeiten da waren. Wir waren dort einquartiert. Links war die Zuckerfabrik, die damals die Russen abgebaut haben. Wir kamen dann mit dem Zug nach Neukalen, und ein Teil ist weitergefahren nach Dargun.
Wir wurden in Neukalen von dem bahnamtlichen Rollfuhr - Unternehmen 2) in das Hotel Dahms 3) überführt, wo wir alle in dem großen Saal vorübergehend einquartiert wurden. Ein Teil von unserem Transport wurde dann in die umliegenden Ortschaften eingewiesen. Das waren Schönkamp, Schorrentin, Schwarzenhof, Kützerhof. Da wurden dann die Leute verteilt.
Wir selber sind in Neukalen geblieben und wurden dann von dem damaligen Bürgermeister Iben in die Privathäuser zwangseingewiesen. Unsere Familie wurde in die Chausseestraße 1 bei der Frau Hausfeld mit Tochter Trude eingewiesen. Dort waren schon im 1. Stock zwei Familien untergebracht. Unten in der Parterre sind wir in das dritte Zimmer gekommen. Wir waren damals sieben Personen. In dem Wohnzimmer war eine Frau Schiller aus dem Sudetenland. Durch das Wohnzimmer ist die Frau Hausfeld mit ihrer Tochter ins Schlafzimmer gegangen. Das war ihr Quartier.
Wir hatten eine gemeinsame Küche. Der Herd wurde mit Holz gefeuert. Da kann man sich ja vorstellen, wenn zehn Personen mit Holz gekocht haben, das war natürlich sehr schwierig. Es gab damals in Neukalen keine Wasserleitung. Wir haben das Wasser von einer Handpumpe in der Bahnhofstraße geholt. Dann war es ja so, wir hatten ein sogenanntes Plumpsklo, da stand ein Eimer unter. Den hat mein Vater mindestens alle zwei Tage in den Garten der Frau Hausfeld entleert.
In Neukalen waren aus unserer Ortschaft Gajdel mehrere einquartiert. Das war einmal die Familie Jantschek, wo auch die Maria Laube, geb. Jantschek, herstammt. Dann gab es eine Familie Krebes, deren Vater im Krieg geblieben war. Der Sohn Richard Krebes wurde später katholischer Pfarrer. Dann gab es eine Familie Palesch, die in dem Haus des Sägewerkbesitzers Schulz einquartiert war.
Ich bin auf dem Ratmannsteich Schlittschuh gelaufen. Dort hat die Neukalener Brauerei im Winter Eis gehackt, um das Bier in der Sommerzeit zu kühlen.
Meine Erinnerungen an die Malchiner Straße: Ausgehend vom Ratmannsteich war links eine Metzgerei 4), dann kam ein Lebensmittelgeschäft 5). Also alles links. Dann kam die Post, dann kam der Bäcker Schönrock. Anschließend war das Gasthaus Wiechert mit Bäckerei. Rechts war ein Kleidergeschäft, Name weiß ich nicht mehr 6). Auf dem Marktplatz war rechts das Hotel Seemann 7), ein Stück weiter war die Tischlerei Schacht. Frau Schacht, geb. Bertram, war in Schwarzenhof Lehrerin. Auf dem Marktplatz war das Geschäft Dethloff, Eisenwaren und Lebensmittel 8). Dann war links die Apotheke, Stück weiter unten rechts die Straße rein die Fotografin Meixner 9). An der Ecke Marktplatz / Mühlenstraße war ein Lebensmittelgeschäft Fischer. Links war dann eine Metzgerei und dann ein Stück weiter unten war ja die Straße "Rohrplage", da war der Fischer Gültzow. Soviel ich weiß, war hinter der Kirche auch ein Lebensmittelgeschäft 10) und dann ging es ja die Lutherstraße hinunter zur Schule.
In der Malchinerstraße war der Müller Harder, und in der Straße daneben ging es zum Bauer Krüger. Mit Anni und Fritz Krüger ging ich zur Schule. Gegenüber vom Ratmannsteich wohnte Doktor Rademacher. Das war damals der einzige Arzt in Neukalen und für die gesamte Umgebung. Aus allen Ortschaften ringsherum gingen die Leute zum Doktor Rademacher.
Wir sind 1947 nach Schwarzenhof gezogen, und das kam dadurch: Mein Vater sollte vom Arbeitsamt nach Peenemünde zum Abbau der V1 und V2 delegiert werden, und das wollte er nicht. Da hat er sich um eine Neubauernstelle gekümmert, die wir dann in Schwarzenhof bekommen haben. Dadurch sind wir im Februar 1947 nach Schwarzenhof gezogen. Der Bezug zu Neukalen ist weiterhin bestehen geblieben, weil wir unsere Einkäufe alle in Neukalen getätigt haben. Wir haben dann später, als meine Eltern die Landwirtschaft hatten, auch Milch in die Molkerei nach Neukalen abgeliefert. Wir haben auch Eier abgeliefert, weil man damals das sogenannte Ablieferungssoll erfüllen mußte. Beim Bäcker Wiechert holten wir Brot. Dadurch sind wir immer wieder nach Neukalen gekommen.
Jetzt noch einmal zum früheren Bürgermeister Iben. Er war später der Leiter des staatlichen Bauunternehmens 11). Das Büro war am Hafen. Da war meine Frau damals Sekretärin. Ein Arbeitskollege meiner Frau war Franz Schmidt.
Ich möchte noch einmal auf die Zeit von 1946 zurückkommen, als wir in Neukalen - ich sage immer - zwangseingewiesen wurden. Bei den Altneukalenern hat es, soweit ich mich erinnern kann, nie irgendwelche Probleme gegeben, die uns Flüchtlinge betrafen. Ich muß heute sagen (ich war ja damals 12 Jahre alt), es war eigentlich verwunderlich, daß die Neukalener Bevölkerung das so gelassen hingenommen hat. Jedes freie Zimmer und jeden freien Raum, der in Neukalen war, hat man ja mit Flüchtlingen und Heimatvertriebenen belegt, indem man sie einfach zwangseingewiesen hat. Da muß man heute noch sagen: Alle Achtung vor der Neukalener Bevölkerung, die das sehr gelassen hingenommen hat.
Es war natürlich für uns Deutsche, die man vertrieben oder davongejagt hatte, wie ich immer gesagt habe, sehr schlimm, denn unsere Vorfahren haben über 800 Jahre in diesen deutschen Dörfern des Hauerlandes gelebt. Wir hatten deutsche Schulen, wir hatten die deutsche Gemeindeverwaltung, also es war eine sehr lange Zeit, in der diese Ortschaften von Deutschen bewohnt wurden. Aber leider war es dann so. Es war ja damals die Tschechoslowakei; die "Benesch-Doktrin" hat ja dann zuwege gebracht, daß man alle Deutschen davongejagt hat. Das war in der Slowakei so, das war im Sudetenland so, das war in Schlesien so, zum Teil auch in Ungarn. Es war halt damals schon für uns Deutsche eine Riesenkatastrophe.
1) Herr Rudolf Rötlich kam 1946 mit seinen Eltern Johann und Josef Rötlich, seiner Großmutter Theresia Rötlich und seinen Geschwistern Anna, Emilie und Otto aus Gajdel im Hauerland nach Neukalen. 1955 flüchtete er in die BRD.
2) Spediteur Carl Wilken
3) Straße des Friedens 14 - heute Discothek
4) Schlachter Darmer
5) Kaufmannsladen Maria Wagenknecht, Straße des Friedens 22
6) Textilgeschäft Martin Bohn
7) Das Hotel Seemann wurde im März 1989 abgerissen; hier befindet sich heute das EDEKA - Geschäft
8) Heute befindet sich hier das Bistro am Markt
9) Elisabeth Meixner, Amtstraße 5
10) Kaufmannsladen Rudolf Mamerow, Markt 19
11) "Bauhütte Bezirk Neukalen" (siehe: Jahresheft 1998 Neukalener Heimatverein)
Haus der Familie Rötlich in Gajdel mit der Großmutter von Rudolf Rötlich und seinen Geschwistern
Johanna und Josef Rötlich in Gajdel mit den Kindern Emmi, Anni und Rudolf
Josef Rötlich mit den Kindern Rudolf, Emmi und Anni
Theresia Rötlich in Schwarzenhof
Wohnhaus der Familie Rötlich in Schwarzenhof, rechts der angebaute Stall
Mit "Prinz", dem Pferd der Familie Rötlich in Schwarzenhof, mußten so manche Fahrten nach Neukalen gemacht werden.
Die jungen Leute von Schwarzenhof um 1950
(in der Mitte die Lehrerin Ilse Bertram, später verheiratete Schacht)
Erntefest in Schwarzenhof mit der Musikkapelle Plagens (1948)
Erntefest in Schwarzenhof mit der Musikkapelle Plagens (1950)
Hochzeit in Schwarzenhof um 1950
Josef Rötlich hatte bereits in Gajdel eine Schalmeienkapelle gegründet
In Schwarzenhof gab es um 1950 auch eine Musikkapelle, in welcher Josef und Rudolf Rötlich mitspielten
Musikkapelle in Schwarzenhof mit Josef und Rudolf Rötlich
Hochzeit Anna und Rudolf Rötlich
Hochzeit Anna und Rudolf Rötlich
Aus der Zeit nach 1945 in Schwarzenhof
berichtete Herr Rudolf Rötlich auch folgende
kleine Anekdoten über Dr. Rademacher:
Mein Schwiegervater Anton Grosch war ein ganz starker Raucher und hatte irgendwann mit dem Magen Probleme gehabt. Er ging zu Dr. Rademacher, der feststellte, daß er am Magfenausgang ein Geschwür hat. Daraufhin sagte Dr. Rademacher zu ihm: "Entweder du hörst auf zu rauchen, oder du verreckst!"
Das hat gewirkt. Mein Schwiegervater hat nie mehr eine Zigarette angerührte!!!
Eine zweite Geschichte:
Meine Frau war damals ein junges Mädchen von 15 oder 16 Jahren und hatte furchtbare Halsschmerzen. Sie ist zu Dr. Rademacher gegangen und hat ihm gesagt, sie hat solche Halsschmerzen, sie kann fast kein Wort mehr sprechen. Da hat Dr. Rademacher zu ihr gesagt: "Ich wäre froh, wenn meine Frau mal solche Halsschmerzen hätte. Dann würde sie mal eine Weile nicht mehr reden können!"
Hier noch eine weitere Begebenheit mit Dr. Rademacher. In Schwarzenhof war das ganze Schloss von Flüchtlingen bewohnt. Alle Räume waren voll mit Flüchtlingen. Zu dieser Zeit gab es keine Busverbindungen. In Schwarzenhof waren im gesamten Dorf nur zwei Fahrräder vorhanden.
Das heißt, wenn jemand im Schloss krank geworden ist, der nicht nach Neukalen laufen konnte, musste mein Vater als damaliger Bürgermeister dafür sorgen, dass Dr. Rademacher per Pferdefuhrwerk von Neukalen nach Schwarzenhof gefahren wurde. Meistens musste ich das machen, da ich ja der Sohn vom Bürgermeister war. Das habe ich dann auch gemacht, und so hat sich das begeben, dass erkam und als er dann fertig war (er war bei der Frau Patezko), haben alle Leute gefragt, wie es Frau Patezko gehen würde. Die Antwort von Dr. Rademacher war: "Die hat jetzt eine Himmelfahrtspritze bekommen und jetzt geht es ihr besser!" Das war der Dr. Rademacher ... !!!