Erinnerungen an meine Großmutter Martha Thürkow
Ingetraud Thürkow Rossi
Diese Familiengeschichte widme ich unserer lieben Grossmutter
Martha Thürkow geb. Kohlmetz
geboren am 31. Januar 1891 in Lübkow / Mecklenburg
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“Över de stillen Straten geit klar de Klockenslag;
God Nacht! Din Hart will slapen, un morgen is ok en Dag.
Din Kind liggt in de Weegen, un ik bün ok bi di;
dien Sorgen und din Leven is allens um un bi.
Noch eenmal lat uns spräken: Goden Abend, gode Nacht!
De Maand schient op de Däken, uns' Herrgott hölt de Wacht.
“Wer von Euch kennt dieses Gedicht, versteht es und weiss sogar wer es geschrieben hat?” Das fragte uns 1964 unser Volksschul-Lehrer. In einer Schule im Norden Deutschlands hätten sich wohl viele Schüler gemeldet, aber im Südwesten, genauer gesagt, in unserer kleinen Schule in Bruchmühlbach (Rheinland Pfalz) waren es nur mein Bruder Karl Hans und ich Ingetraud Thürkow.
Wie unser Familienname schon verrät, sind einige unserer Wurzeln auch in Mecklenburg. Seit 1963 hatten wir eine eigene, nicht allzu strenge Hauslehrerin. Es war unsere liebe Oma Martha, die ihre Heimat Mecklenburg für immer verlassen hatte und zu uns in die Pfalz umgezogen ist. Sie lehrte uns einige Gedichte von Fritz Reuter und Theodor Storm in plattdeutscher Sprache und natürlich auch so manch lustigen, volkstümlichen Reim und Lieder. Aber bis es zu dieser “Familien-Wiedervereinigung” kam, vergingen viele Jahre, in denen das Leben auch sehr schwere Aufgaben und extreme Anforderungen an sie stellte. Beginnen möchte ich aber mit einem freudigen und schönen Fest, das sich am 8. Mai 1914 in Lübkow ereignete. Die Hochzeitsfeier unserer Grosseltern Martha Berta Adolfine und Carl Wilhelm Friedrich Thürkow. Wie man dem Hochzeitsfoto entnehmen kann, waren viele Gäste eingeladen. Überwiegend Mitglieder der beiden kinderreichen Familien Thürkow aus Neukalen und Kohlmetz aus dem Geburtsort der Braut in Lübkow.
Hochzeitsfoto Martha Kohlmetz und Carl Thürkow am 8. Mai 1914 in Lübkow
Einige dieser Verwandten haben wir noch kennengelernt, von vielen aber nur ihre Kinder und Enkelkinder, mit denen wir über viele Jahre hinweg noch ein freundschaftliches familiäres Verhältnis haben.
Die frisch getraute Martha Thürkow zog zu ihrem Ehemann Carl in dessen Elternhaus in Neukalen, Amtstrasse 2. Sie waren beide mit Leib und Seele Landwirte, sparsam und gewissenhaft, und schafften es (auch dank der Mitgift ) bald mehrere Grundstücke sowie gutes Ackerland und Wiesen zu erwerben. Auch der ersehnte Stammhalter traf bald ein und so wurde am 28.5.1915 ihr erster Sohn Karl geboren. Bereits im Jahr darauf, am 14.9.1916 erblickte ihr zweiter Sohn Hans (unser Vater) das Licht der Welt. Es gibt ein nettes Familienfoto auf dem die beiden kleinen Söhne mit Stolz - auf einem Pferd sitzend - den entfernt lebenden Verwandten vorgestellt wurden.
Martha und Carl Thürkow mit ihren beiden Söhnen Karl und Hans
Um den Haushalt und die Erziehung der Söhne kümmerte sich hauptsächlich ihre verwitwete Grossmutter Wilhelmine Thürkow, geb. Fehlhaber, die sie liebevoll “Grotmutting” nannten. Zwischen “Grotmutting” und dem kleinen Hans kam es wohl öfter zu Diskussionen, wenn er einmal wieder seinen Kopf durchsetzen wollte. So war in unserer Familie lange der Spruch bekannt: “Ach Hanning lot man!” – “Nee, Grotmutting, lot nich!” (wobei er das “r” besonders betonte.) Aus den Erzählungen wissen wir auch, dass sich hauptsächlich Karl, der Erstgeborene, für die Landwirtschaft interessierte und wohl auch dazu erzogen wurde einmal das Erbe seiner Eltern anzutreten. Die Interessen unseres Vaters Hans gingen eher in Richtung Technik und da setzte er sich auch durch und trat 1931 bei dem Elektrikermeister August Voss in Neukalen (Mühlenstrasse 5) eine Ausbildung zum Elektriker an, die er nach vier Jahren erfolgreich beendete, wie ihm Herr Voss in einem Zeugnis am 26.2.1935 auch bestätigte.
Zeugnis des Elektromeisters August Voss für Hans Thürkow vom 26. Februar 1935
Schulklasse um 1925 mit Lehrerin Radöhl
(Karl Thürkow: untere Reihe, 4. von links)
Schulklasse um 1925 mit Lehrer Schmidt
(Hans Thürkow: 2. Reihe, 2. von rechts)
Hans Thürkow (links) mit Freunden in Neukalen
Hans Thürkow (2. von rechts) mit Freunden
Hans Thürkow (links) mit Freunden
Dass unsere Grosseltern und ihre Söhne nicht nur die Arbeit kannten sondern auch an den Feierlichkeiten Neukalens aktiv teilnahmen zeigen zwei kleine Fotos, auf denen unser Grossvater Carl sich 1938 stolz als Schützenkönig präsentierte.
Schützenkönig Carl Thürkow 1938
Ehepaar Thürkow
Karl Thürkow, der älteste Sohn von Martha und Carl Thürkow
Karl Thürkow in Neukalen
Der Sohn Karl jun. kümmerte sich in all diesen Jahren gemeinsam mit seinen Eltern um die Landwirtschaft und erwarb auch für sich selbst einige Grundstücke in Neukalen. In der Zwischenzeit (1935) wurde in Deutschland wieder die Allgemeine Wehrpflicht eingeführt und das bedeutete für die beiden Brüder, dass auch sie den Wehrdienst antreten mussten. Unser Vater wurde wegen seines familiären Hintergrundes zunächst zur Kavallerie beordert und musste sich dort (zu seinem Leidwesen) um die Pferde kümmern. Aufgrund seiner Ausbildung zum Elektriker wurde er anschliessend zum Funkwart (Flugzeugfunkpersonal) ausgebildet.
Während des 2. Weltkrieges lernte er in dem kleinen Ort Bruchmühlbach (Rheinland-Pfalz) seine künftige Ehefrau Albertine kennen. Sie war eine der fünf Töchter des Bahnhofsvorstehers Karl Feick und spazierte öfter mit ihrer um 6 Jahre jüngeren Schwester Marie durch die umliegende Naturlandschaft. Unser Vater schloss sich den beiden jungen Frauen bei einem Spaziergang an und pflückte der hübschen und gross gewachsenen Albertine ein Kornblumensträussen. Eine Geste, mit der er das romantische Herz seiner zukünftigen Frau eroberte.
Hans Thürkow als Soldat
Albertine Thürkow, geb. Feick
1943 verlobten sie sich. Die Verlobungszeit wurde für beide zu einer harten Erprobungszeit, denn der schreckliche Krieg dauerte weiter an und hatte auch die Stadt Neukalen erbarmunglos getroffen und die Einwohner nicht verschont. Wie in allen Familien so bangten auch unsere Grosseltern um das Leben ihrer geliebten Söhne und atmeten auf, wenn ein Lebenszeichen von ihnen eintraf. Ein Brief, oder auch nur eine Feldpostkarte wurden zur Kostbarkeit. So erhielten sie von ihrem Sohn Karl mehrere Feldpostkarten aus Stalingrad. Er diente in der Panzerdivision 24. Am 5.1.1943 erhielten sie allerdings einen etwas längeren Brief von ihm. Vielleicht ahnte ihr Sohn Karl schon, dass es sein letzter Brief und somit ein Abschiedsbrief an seine geliebten Eltern werden sollte? Er schrieb in der damals üblichen Sütterlinschrift und mit einem Bleistift. Mit der Zeit ist der Brief leider etwas unleserlich geworden, da er auch als letztes Andenken immer wieder gelesen wurde.
Er lautet:
“Liebe Eltern!
Ihr werdet Euch wundern wenn ich jetzt mehr schreibe. Vorerst möchte ich Dir liebe Mutter zu Deinem Geburtstag gratulieren. Feiert den Tag man gemütlich, werde daran denken.
Von Euch habe ich seit ende Oktober keine Post, auch von Hans nicht. Wir müssen den Riemen verdamt eng schnallen aber das schlimmste ist geschaft. Wir sind jezt im Januar und es wird bald wieder Frühling. Ich glaube es ist die Kräfteprobe von beiden seiten wir werden sie überstehen. Bis dahin werden auch kleine Päckchen wieder zu uns gelangen. Die andern werden wohl noch kommen. Ist bei Euch der Winter auch so milde. Wenn das Wetter so bleibt wie bisher dann wollen wir Gott danken. Es sind nur noch 2 Monate. Diesen Brief schicke ich ohne Briefpostmarken. Denke das er Euch zum Geburtstag noch erreicht. Die Marken habe ich im vorigen Brief abgeschickt. In gewöhnliche Brief wie ich schon geschrieben habe etwas Süßstoff. Wie geht es Euch sonst hoffentlich gesundtheilig gut. Um mir habt Ihr Euch wohl schon Sorge gemacht. Der Gegner greift an allen Fronten an. Jezt wirds sich zeigen. Aber Ihr könnt es glauben wir sind eben so hart wie der Ruße. Schade das wir keine Amerikaner vor uns haben. Aber sagt denen die zu Hause unzufrieden sind das auf weit vorgeschobenen Posten deutsche Soldaten kämpfen und den Glauben an Deutschland nicht verloren hätten. Es wäre für sie nicht im Schaden wenn sie nur acht Tage hier [sein] würden. Wie sieht [es] in der Landwirtschaft aus die Starken sind jezt alle zum dritten mal gemolken. So habt Ihr wohl gute Milch. Das Wetter scheint nach diesen Umständen für Euch günstig zu sein. Nun möchte ich alle Verwandten grüßen die an mir geschrieben haben. Und sie auf diesem Weg danken. Alle Post werde ich später beantworten wenn ich sie gelesen habe. Nun die besten Grüße hoffentlich seid Ihr noch Alle gesund
Euer Karl"
Ich denke, dass der Inhalt dieses Briefes auch ein wichtiger Zeuge der Kriegszeit ist. Wie sehr hatte man auf diese jungen Menschen eingewirkt, treu für das Vaterland in einem unsinnigen Krieg zu kämpfen.
Ob unsere Grossmutter Martha am 31. Januar ihren Geburtstag gefeiert hat, wissen wir nicht. Was wir aber sicher wissen ist, dass unsere Grosseltern täglich auf eine weitere Nachricht warteten. Als kein weiteres Lebenszeichen eintraf, schrieb unser Grossvater Carl Thürkow am 10.3.1943 verzweifelt einen Brief an den Suchdienst. Auch diesen Brief füge ich als Zeitzeuge bei. Er ist auch in Sütterlinschrift geschrieben, aber fast noch leserlich. Ich versuche den Text zu transkripieren:
"Neukalen d. 10.3.43 (mit Eingangsstempel 11. Mrz. 1943)
Mein Sohn d. Obgfrt. Karl Thürkow Feldpostn. 27679 (hat vor Nov. 42 d. Feldpost 10443) war beim Panzergenadier Reg. 26 (Panzer Division 24) hat bei den letzten Kämpfen in Stalingrad teilgenommen und seitdem haben wir keine Nachricht. Er kann gefallen sein, oder auch in Kriegsgefangenschaft geraten sein. Er ist geboren am 28.5.1915. 1 Jahr freiwillig Soldat in Schwedt a. d. Oder. Die andere Zeit als Landwirt tätig hier in Neukalen. Bei Kriegsausbruch eingezogen nach Parchim in Meckb. Hat Polen, Frankreich und zuletzt Rußland mitgemacht, bis zum Fall v. Stalingrad im Jan. 43."
Rueckseite:
"Hat zuletzt am 5.1.43 geschrieben. Möchte doch bitten über das rote Kreuz nach Rußland zu forschen, ob mein Sohn dort in Gefangenschaft ist, ich will die Unkosten auch gerne bezahlen.
Karl Thürkow Landwirt Neukalen (Mlb)"
Brief von Carl Thürkow an den Suchdienst
Das Foto zeigt Karl Thürkow als Soldat, auf der Rückseite sind Angaben zu seiner Person. So diente das Foto auch dem Suchdienst. Das Ergebnis des Roten Kreuzes lag erst im April 1972 vor:
So vergingen die Monate, der schreckliche und unsinnige Krieg ging weiter und erst im Mai 1945 kam endlich das ersehnte Ende. Meine Grosseltern hofften auf ein Wiedersehen mit ihren Söhnen. Auch sollten diese sich um die Landwirtschaft kümmern, denn sie beide waren nun schon weit über 50 Jahre alt und ihre Kräfte liessen langsam nach. Aber es sollte anders kommen, statt des ersehnten Wiedersehens gab es für unsere Grosseltern einen weiteren Abschied, eine Trennung auf Lebenszeit. Unser Grossvater Carl wurde aus unerklärlichen Gründen, ohne einen Straf-Prozess, Urteil etc. von den russischen Truppen verhaftet und kam in das Lager Fünfeichen nach Neubrandenburg. Bis heute wissen wir nicht, wie sein Leben dort verlief, wann, wie und wo es endete. Somit war unsere Grossmutter Martha alleine auf sich gestellt. Ihre ganze Hoffnung setzte sie in ihren Sohn Hans. Unser Vater war aber 1945 bei dem 8. Britischen Besatzungs-Korps in Priwall in Kriegsgefangenschaft und wurde erst im Oktober 1945 entlassen. Als Adresse auf seinem Entlassungsschein vom 10. Oktober 1945 war bereits Travemünde Mecklenburger-Land-Str. 2 eingetragen.
Freilassungsschein für Hans Thürkow
Der Wohnort unseres Vaters war Travemünde, wo er bereits zwei Tage nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft eine Beschäftigung als Elektromonteur bekam. Er arbeitete in dem Reparaturbetrieb der Technischen Werkstätten. W. Knauer in Travemünde-Priwall, Mecklenburger Landstrasse 32/34. Diese Angaben habe ich aus einer Bescheinigug für die Lebensmittelkarten-Ausgabe.
Wie bekannt ist wurde Deutschland nach Kriegsende von den Siegermächten in Besatzungs-Zonen aufgeteilt und so lebte unser Vater in der Britischen Zone und unsere Grossmutter Martha in der östlichen Zone, unter der Zuständigkeit der Sowjetunion. Und unsere Mutter Albertine lebte mit ihrer Familie im Südwesten, d.h. in der sog. Französischen Zone. Unser Vater verliess Travemünde bald und zog zu seinem Onkel Karl Kohlmetz, dem jüngsten Bruder seiner Mutter. Onkel Karl lebte seit mehreren Jahren mit seiner Familie in Clenze und war dort der Direktor der Molkerei. Unser Vater fand Arbeit in Clenze und verblieb zunächst in diesem Ort. Wann und wo genau unsere Grossmutter Martha ihn wiedersah weiss ich nicht. Ich habe noch ein Dokument, das unserem Vater wohl als Personalausweis vom Bürgermeister in Neukalen ausgestellt wurde. Der Ausweis trägt das Datum 7.6.1946.
Ausweis von Hans Thürkow, ausgestellt am 7.6.1946 in Neukalen
durch den Bürgermeister in Vertretung Haensch
Ein weiteres Dokument, das für ihn in Neukalen ausgestellt wurde ist die Politische Unbedenklichkeits-Bescheinigung. Sie wurde am 8. März 1948 vom Block Ausschuss der Antifa-Mitglieder ausgestellt und mit 8 verschiedenen Unterschriften versehen.
Politische Unbedenklichkeits - Bescheinigung für Hans Thürkow,
ausgestellt am 8. März 1948 in Neukalen
Unser Vater lebte und arbeitete also weiterhin in der Britischen Zone. (Arbeitgeber Fa. Werner Tornau, Clenze) Seine Mutter versuchte ihn zu überzeugen doch endlich zu ihr nach Hause zurückzukehren und die Landwirtschaft zu übernehmen. Aber er hatte andere Pläne. Seine Verlobte Albertine Feick wartete im Südwesten auf ihn und sie wollten beide endlich heiraten. Noch kannte unsere Grossmutter die Verlobte ihres Sohnes nicht persönlich und hatte allerlei Vorurteile gegenüber den Frauen vom Rhein, deren Lebensart so anders sein sollte. Aber sie konnte sich bald selbst ein eigenes Bild von ihrer künftigen Schwiegertochter machen, denn ihre Nichte Marianne Kohlmetz, die Tochter ihres jüngsten Bruders, hatte sie beide 1947 zu ihrer Konfirmation nach Clenze (Nähe Hannover) eingeladen.
Martha Thürkow und Marianne Kohlmetz,
Tochter von Karl Kohlmetz in Clenze
Es war eine schöne Feier und unsere Oma Martha musste zugeben, dass ihr eher zurückhaltender Sohn die richtige Frau gefunden hatte. Beide ergänzten sich perfekt und planten ihre Hochzeit bereits für das Frühjahr 1948. Aber für unseren Vater war das Recht auf die Eheschliessung und die damit verbundene Übersiedlung in die französische Zone nicht unproblematisch. Es bedarf div. Anträge und Genehmigungen bei den entsprechenden Behörden in deutscher und franz. Sprache. Ausserdem musste er einen Arbeitsplatz und eine Wohnung in Aussicht haben, um in der französischen Zone leben zu können. Nach der neuerlichen politischen und wirtschaftlichen Lostrennung des Saargebietes vom Deutschen Wirtschaftsgebiet konstituierte sich im Laufe des Jahres 1948 wieder eine Zollüberwachung. Die deutsch/saarländische Zollgrenze hatte zur Folge, dass der Bahnhof Bruchmühlbach, der von unserem Grossvater Karl Feick geleitet wurde, erneut als sehr wichtiger Grenzbahnhof Deutschlands diente. Die Familie Feick wohnte bereits einige Jahre in der Dienstwohnung dieses Bahnhofes und konnte auch für die künftigen Eheleute Thürkow entsprechende Räumlichkeiten zur Verfügung stellen. Ausserdem hatte unser Vater bereits eine Arbeitsstelle in einem Elektrobetrieb in Aussicht. Am 22. Mai 1948 fand die Hochzeitsfeier unserer Eltern in Bruchmühlbach statt und Oma Martha nahm voller Freude daran teil.
Hochzeit Albertine und Hans Thürkow am 22.5.1948
Hochzeitsfoto Albertine und Hans Thürkow
Martha Thürkow mit Sohn Hans und Schwiegertochter Albertine
Ihre weite Anreise mit dem Zug verlief gut und reibungslos. Zum ersten Mal in ihrem Leben fuhr sie quer durch Deutschland, in den Südwesten; durch eine sehr abwechslungsreiche und schöne, blühende Landschaft von der sie geradezu begeistert war. Auch der freundliche und herzliche Empfang seitens der Familie Feick trug dazu bei, dass sie sich in dieser Familie wohl fühlte. Trotzdem kehrte sie wieder nach Mecklenburg zurück, noch immer in der Hoffnung ihren geliebten Mann und den ältesten Sohn Karl eines Tages doch wieder in die Arme schliessen zu können. Ausserdem wartete ja auch die Landwirtschaft auf sie. Unser Vater besuchte seine Mutter auch 1949.
Bescheinigung durch Bürgermeister Iben (10.3.1948)
Bescheinigung durch den stellv. Bürgermeister Kaiser (5.6.1948)
Aufenthaltsgenehmigung für Hans Thürkow
Die Familien Feick und Thürkow wohnten bis 1950 in den Dienstwohnungen des Bahnhofs von Bruchmühlbach. Dort wurde auch mein Bruder Karl Hans am 14. Mai 1950 geboren. Aber bald schon bezogen unsere Grosseltern Feick, meine Eltern, mein Bruder und zwei verwitwete Schwestern unserer Mutter das neu errichtete Haus, das für alle Platz hatte. Auch für eine Flüchtlingsfamilie aus Schlesien. In diesem Haus erblickte ich am 31. März 1952 das Licht der Welt. In der Zwischenzeit war unsere Grossmutter Martha auch umgezogen. Sie zog in das Haus der Familie Fehlhaber (Stahl), Amtstrasse 1, das schräg gegenüber lag. In ihrem Haus in der Amtstrasse 2 wohnte nun ihre Nichte Marie Peters, geb. Kosegarten mit ihrem Mann Ernst und den zwei jüngsten Kindern Ilse und Ernst jun., die nach ihrer Flucht in den Westen wieder nach Mecklenburg zurückkehrten und eine Unterkunft benötigten. Oma Martha nahm sie auf und verpachtete ihnen die Landwirtschaft. Um seine Mutter bei dem Pachtvertrag zu unterstützen, reiste unser Vater Anfang November 1950 nach Neukalen. Dazu benötigte er allerdings einen “Interzonen-Reisepass (Deutschland)”.
Interzonenreisepaß für Hans Thürkow
Somit war unsere Grossmutter nicht mehr an die Landwirtschaft gebunden und konnte uns im Südwesten besuchen.
Großeltern Feick und Oma Martha
Oma Martha mit Enkelkindern und Schwester ihrer Schwiegertochter in Bruchmühlbach
Oma Martha zu Besuch in Bruchmühlbach
Aber bald sollte auch sie Besuch von uns in Neukalen bekommen. Im Sommer 1954 war es dann endlich soweit und unsere erste Familienreise nach Mecklenburg wurde angetreten. Ich bewundere meine Eltern noch immer für ihren Mut und ihre Geduld mit zwei kleinen Kindern, vielerlei Gepäck und manchem Ersatzteil eine so anstrengende Zugreise anzutreten. Ausserdem hatten sie immer mehr Schokolade, Kaffee etc. dabei, als es die Vorschriften erlaubten. So waren wir also auch Schmuggler, alle vier, denn mein Bruder hatte einen kleinen Rucksack und ich ein rotes Pappköfferchen, in dem so manche Leckerei versteckt waren. Die Fahrt dauerte einen Tag und eine Nacht mit mehreren Zügen quer durch Deutschland. Es gab längere aber auch äusserst knappe Aufenthalte in diversen Umsteigebahnhöfen. Es gab einen Interzonenzug und auch eine Zonengrenze. Trotz der langen und anstrengenden Anreise freuten wir uns jedes Jahr wieder auf unseren Besuch bei unserer geliebten Grossmutter Martha und den Verwandten in Neukalen. Wir freuten uns auch richtig auf Neukalen und Mecklenburg und die Menschen, die dort lebten. Nach und nach verstanden wir auch die plattdeutsche Sprache, die so anders war als unser Dialekt in Rheinland Pfalz. Wir merkten bald, dass wir hochdeutsch sprechen mussten, um uns verständigen zu können. Aber wir waren auch an andere Sprachen gewöhnt, denn wir hatten einige Jahre (bis 1957) französische Nachbarn und somit auch französische Spielkameraden. So begannen auch wir zu “snacken” und verstanden unsere liebe Grossmutter Martha, die uns während unseres Besuches bei ihr verwöhnte. Noch vor unserem Eintreffen backte sie Kekse, die sie “Lütt Kauken” nannte. So sagte sie dann immer zu mir, wenn ich einen ihrer Kekse bekam: “Lütt Kauken för de lütt Diern!” Auch durften wir uns im nahe gelegenen Geschäft von Herrn Milde ein Spielzeug aussuchen. Sie akzeptierte unsere Wahl, ganz egal, was wir wählten. Und so bekam ich auch mein Negerpüppchen, das mich im Schaufenster freundlich ansah. Es waren kleine Geschenke, die uns doch so viel bedeuteten. Auch 20 Pfennige für ein Eis im Milchladen waren für uns eine reiche Gabe. Wobei ich im Vorteil war, denn ich liebte Vanilleeiscreme und bekam zwei Bällchen in der Waffel und mein Bruder, der Schokolade liebte, nur 1 Bällchen. Luxus hatte eben seinen Preis. Als wir etwas grösser waren, versorgten wir unsere Grossmutter mit Wasser, das wir mittels Eimern an der Pumpe am Markt holten. Das war etwas Neues für uns und machte uns Spass. Auch das Angeln in der Peene war ein beliebter Zeitvertreib für uns. Es fing schon damit an, dass wir Regenwürmer suchten, die als Köder dienten. Richtig grosse Fische haben wir leider nie gefangen und somit diente unser “Fang” meist als Enten- oder Katzenfutter bei Tante Mieke auf dem Bauernhof, wo wir sehr gerne etwas Zeit verbrachten.
Karl-Hans und Ingetraud zu Besuch in Neukalen
Im Hof bei Oma Martha
Die Pumpe am Markt
Im Wald
Bei Marie Peters
Auch waren wir oft bei unseren Verwandten Luise und Herrmann Brüdigam, sowie deren Töchter Renate und Ursula zu Besuch. Wir trafen uns oft mit unserer Grosscousine Ursula und lernten von ihr wie man vom Heuspeicher durch eine Luke in den Stall hinunter springen konnte. Das war etwas Neues für uns und machte uns riesigen Spass, ihrem Vater vielleicht weniger. Aber er hat nie mit uns geschimpft. Ursula spielte uns auch auf ihrem Klavier vor, was uns sehr beeindruckte. Ausserdem zeigte sie uns wie man sich in Neukalen als Kind bewegt. Ihre Eltern hatten einen grossen Garten, in welchem wir uns Früchte pflücken durften. Auch gab es diverse Spielplätze und natürlich auch das Flussufer, den Hafen und die Anlegestellen. Jeden Tag hatten wir ein anderes Programm und wenn unsere Eltern Zeit hatten, unternahmen wir mit ihnen auch gemeinsame Spaziergänge und Wanderungen. Meist führte unser Weg zum Ratmannsteich, zum Sportplatz und zu den Judentannen, zum Betalienberg und auch zur Windmühle von Erich Harder. Wir begegneten den Schäfern mit ihren Tieren und genossen die schöne Natur. Hin und wieder führte unser Weg auch weiter nach Salem, wo wir in einer Gartenwirtschaft unsere geliebte Brause tranken. Wir machten auch kleinere Ausflüge zum Kummerower See oder gingen, wenn es richtig warm war, zum Baden an den Klostersee nach Dargun. Sogar an der Ostsee in Warnemünde waren wir, was ein ganz besonderes Erlebnis für uns war.
Angeln an der Peene
Spaziergang nach Salem
In der Gastwirtschaft "Fliedereck" in Salem
Auf dem "Bataillenberg" bei Salem
Im "Gartsbruch"
Auf dem "Fritz-Reuter-Platz"
Bei den "Judentannen"
Am "Ratmannsteich"
Am Hafen
An der Peene beim Denkmalsplatz
Am Salemer Weg, im Hintergrund die Windmühle Harder
Auch nach Törpin fuhren wir hin und wieder. Dort lebte eine Schwester unserer Grossmutter mit ihrer Familie auf einem grossen Bauernhof, der sehr einsam lag und auch nur über Feldwege mit einem Pferdewagen zu erreichen war. Abends besuchten unsere Eltern hin und wieder Verwandte und Freunde und wir blieben mit Oma Martha zu Hause. Sie spielte mit uns Mikado, Halma und Dame und war fast unschlagbar. Ich denke, sie liess uns manchmal wohl absichtlich gewinnen. Auch las sie uns aus der Bibel vor, erzählte vom Ewigen Leben und so manch andere Geschichten, die ich damals als recht gruselig empfand. Es ging darin um gute und böse Geister, was besonders meinen Bruder faszinierte. Auch, dass man zu einer Besprecherin geht, wenn man eine Warze loswerden wollte. Wir lernten als Kinder neue Gewohnheiten, neue Gerichte. So gab es oft Fisch zu essen. Manchmal sogar ein Stück von einem riesigen Hecht, denn der Mitbewohner im Haus von Oma Martha fuhr oft zum Angeln auf den Kummerower See. Zum ersten Mal assen wir auch Salate, die mit Zucker gesüsst waren, Rote Grütze usw. Oma hatte auch oft Gäste zu Kaffee und Kuchen eingeladen. So kam auch ihre Nachbarin Martha Rothenhäuser zu Besuch, mit der sie sich sehr gut verstand.
Oma Martha mit Frau Rothenhäuser
Von links: Albertine, Karl Hans, Martha und Ingetraud Thürkow
Vor dem Haus Amtstraße 1
Auf dem Hof Amtstraße 1
Trotzdem sich unsere Grossmutter in Neukalen sehr wohl fühlte, gewöhnte sie sich bei zunehmendem Alter immer mehr an den Gedanken, zu ihrem Sohn, das heisst zu uns, umzuziehen. Sie hatte Probleme beim Laufen und konnte sich nur noch mit Hilfe eines Stockes fortbewegen. Ausserdem war das Haus, in dem sie lebte, nicht komfortabel für eine alte und gehbehinderte Frau. Die Toilette war auf dem Hof und es gab noch immer keinen Wasseranschluss.
1963 war es dann soweit. Unsere Grossmutter zog in den “Westen”, (so sagte man damals.) “Dahin, wo se tau de Heuner Hinkel seggen.” So drückte es eine Bekannte von ihr aus, da ihr der Name Rheinland-Pfalz nicht geläufig war. Aber bis es soweit war, musste sie viele Behördengänge absolvieren. Zum Glück half ihr Hermann Brüdigam, der Mann ihrer Nichte Luise, bei allen Vorbereitungen. So musste Männer, wie sie ihn nannte, sie auch moralisch unterstützen und viel Geduld aufbringen, denn unsere Grossmutter hatte so ihre eigenen Vorstellungen, Bedenken, und Ängste. Auch hatte sie Zweifel bzgl. des Kauf-Vertrages. Ob der Käufer sich auch an alle Vereinbarungen halten würde? Da sie vor der Ausreise ihre Vermögensverhältnisse klären musste, ging sie erst dann zum Notar, als ihre Habseligkeiten eingepackt waren und der entsprechende Frachtbrief am 29. Mai 1963 erstellt war. Ich habe noch eine Liste von ihren Sachen und dem Frachtbrief, sowie dem notariellen Akt. Es war bestimmt ein schwerer Abschied für unsere Grossmutter Martha. Sie verliess Neukalen mit leichtem Hand-Gepäck, aber mit all ihren Erinnerungen und ihre Heimat trug sie in ihrem Herzen mit sich mit. So ist uns bekannt, dass viele Verwandte und Freunde sich von ihr am Bahnhof und auch an den Umsteigebahnhöfen verabschiedeten. Unser Vater war jetzt ihre einzige Hoffnung und er begleitete unsere Grossmutter auf ihrer Reise durch ihre Welt an Gefühlen in ein neues Leben, ein neues Zuhause. In Bruchmühlbach war alles für das neue Familienmitglied vorbereitet. Oma Martha war herzlich willkommen bei uns allen und bezog auch gleich ihr Zimmer im Erdgeschoss, das sie anschliessend mit ihren Möbeln vervollständigte. Von nun an gehörte sie fest zur Familie und wurde auch von unseren entfernteren Verwandten als ein Familienmitglied anerkannt. So nannte man sie ganz einfach die “Kalener Oma”. Mein kleiner Cousin Wolfgang bestand sogar darauf sie als seine eigene Oma zu bezeichnen und erzählte stolz, er habe drei Omas. Wahrscheinlich, weil ihm Oma Martha auch hin und wieder etwas Taschengeld für den Jahrmarkt gab. Dabei sagte sie dann immer “Och de Lütt soll och wat hebben!” Reich war Oma Martha nicht, denn sie bekam nur eine kleine Rente und wollte unbedingt auch etwas Erspartes haben. Sie redete nicht lange um den heissen Brei herum und bat mich hin und wieder Informationen für sie zu sammeln. So wollte sie auch wissen was ein Sarg und eine Beerdigung für Kosten verursachen. Meine Antwort war dann immer die gleiche: “Oma du musst noch lange leben und sparen, denn dein Geld reicht nicht.” Sie lachte dann nur und freute sich mit uns, dass es ihr gut ging. So vergingen die Jahre ohne Sorgen und sie fühlte sich gut aufgehoben bei uns allen. Denn ausser uns, d.h. meinen Eltern, meinem Bruder und mir lebte noch unsere Grossmutter Marie Feick mit ihren beiden verwitweten Töchtern Magdel und Frieda im gleichen Haus. Am Wochenende kamen dann auch noch die jüngere Schwester Marie mit ihrem Mann Karlheinz und Sohn Wolfgang zu Besuch. Unser Onkel war Zollbeamter und musste Dienst an der Deutsch-Französischen Grenze ausüben. Damit war die Familie allerdings noch nicht komplett, denn meine Mutter hatte vier Schwestern und die älteste von ihnen, die Else hiess, war mit einem Metzgermeister verheiratet und hatte sieben Kinder, die auch hin und wieder zu Besuch kamen, und spãter auch mit ihren Ehepartnern und eigenen Kindern eintrafen. Es war Platz für alle und die Gastfreundschaft wurde in Ehren gehalten. Ausser unseren Verwandten aus der Pfalz erhielten wir hin und wieder auch Besuch von Verwandten, die zu Oma Marthas Verwandten-Kreis zählten. So kam ihr jüngerer Bruder Karl Kohlmetz mit seiner Familie aus Clenze, ihre Schwester Marie mit ihrem Mann aus Törpin, ihre Schwägerin Anna Wilken mit ihren beiden Töchtern Trude und Carla, ihre Nichte Anna Kosegarten und Frieda Bartling aus Schwerin und andere.
Martha Thürkow mit Anna Kosegarten und Frieda Bartling
In Bruchmühlbach mit Anna Kosegarten und Frieda Bartling
Familienfeier in Bruchmühlbach
Auch bekam sie viele Briefe von Verwandten und Freunden aus Mecklenburg, die sie über das Leben dort informierten und ihr auch Fotos von den heranwachsenden Kindern schickten. So lebte unsere Grossmutter Martha auch dieses Leben in Gedanken weiter. Zur Weihnachtszeit bedankte sie sich meist mit einem kleinen Paket für deren Treue. Es war schön, dass man auch aus der Ferne an sie dachte. Eine ganz besondere Verbindung hatten unsere beiden Grossmütter Marie und Martha, denn sie hatten sich immer etwas zu erzählen, auch wenn beide verschiedene Dialekte sprachen.
Die zwei Großmütter
Ich sehe sie noch vor mir, wenn sie im Sommer auf der Bank vor dem Haus, im Schatten des grossen Kirschbaumes, sassen. Sie unterhielten sich, naschten Kekse oder auch Obst, das Oma Martha mit ihrem Taschenmesser bearbeitete, das sie immer in ihrer Schürze bei sich trug. Manchmal machten sie auch einen gemeinsamen Spaziergang. So nahmen sie oft den Weg vor unserem Haus, der durch die Felder leicht ansteigend zum Wald führte. Am Ende des Weges, am Waldrand, kehrten sie in einer Garten-Gastwirtschaft ein, wo ihnen der freundliche Gastwirt, Herr Brunk immer ein erfrischendes Getränk und Salzgebäck spendierte und sich zu ihnen gesellte. Überhaupt hatte Oma Martha reichlich Abwechslung. Unsere Mutter leitete die Seniorengruppe der Protestantischen Kirche und so nahm auch Oma Martha regelmässig an diesen Zusammenkünften und Kaffeetafeln teil. Meist sass sie mit Frau Wolter zusammen, denn diese kam auch aus Mecklenburg und so konnten beide mal wieder richtig Platt snacken. Es gab auch eine Gruppe der Mecklenburger Landsmannschaft in Rheinland-Pfalz, die sich regelmässig traf und deren Mitglieder sich gegenseitig besuchten. Aber unsere Oma Martha war auch gerne alleine für sich, um zu lesen. Sie las regelmässig die Tageszeitung “Die Rheinpfalz”, die Frauenzeitschriften mit Berichten über die Adelsfamilien und sogar die Aufklärungsberichte unsere Jugendzeitschrift Bravo. Die Bibel lag auch immer griffbereit, genau wie der Weltatlas, in dem sie schon in Mecklenburg oft in Gedanken verreist ist. Ihr Zimmer gestaltete sie mit ihren Möbel, Bildern und Fotos aus Neukalen. Ihre Wanduhr sowie der folgende Spruch von Fritz Reuter hingen in unserer grossen Küche:
Wenn einer kümmt und tau mi seggt:
“Ik mak dat allen Minschen recht!”
Dann segg ick: “Leiwe Fründ, mit Gunst,
O, liehr'n S' mi doch de s'were Kunst!”
Hier hatte sie auch einen Sessel am Fenster, in dem sie ihren Handarbeiten nachging. Sie konnte sehr gut stopfen und stricken! Hin und wieder strickte sie auch heimlich an meinen Strümpfen, die ich für den Unterricht in der Handarbeitsstunde der Schule anfertigen musste. Sie kannte mich genau und wusste, dass ich lieber meine Freizeit auf dem Fussballplatz verbrachte. Dass wir eine schöne und sorgenfreie Kindheit und Jugendzeit verbringen konnten, war auch ihr Verdienst, denn sie half, wo sie konnte, und war nicht gebieterisch. Sie kochte ausserdem auch sehr gut, denn sie sagte, sie hätte das Kochen bei einer “Noblen Familie in der Fremde” gelernt. (Diese lebte im Umkreis von Lübkow, d.h. nicht weit entfernt) Sie lehrte uns Lieder und Gedichte aus Mecklenburg und berichtete uns auch über die Ereignisse in ihrem Leben in Mecklenburg. So hat sie es immer wieder bedauert, dass wir ihren Mann unseren Grossvater Carl nie kennengelernt haben. Er wäre wohl sehr gerne Lehrer geworden und konnte auch gut mit Kindern umgehen; zog sie regelrecht magnetisch an, so dass immer einige Kinder auf sein Fuhrwerk kletterten, um mit ihm mitfahren zu können. Wäre er doch nicht von einem missgünstigen Menschen bei den Russen denunziert worden. Er, der politisch nicht aktiv war und bedauerte, dass seine Söhne in den Krieg ziehen mussten, wurde ohne gerichtliche Verhandlung und Urteil abgeführt wie ein Verbrecher und in ein Lager gebracht, wo er wohl sehr gelitten hatte und verstarb. Sie glaubte zu wissen, wer der Denunziant war und sagte, er hätte sich wohl damals selbst gerichtet, da er offenbar nicht mit dieser Schuld leben konnte. Sie meinte, in die Hölle wäre dieser Mörder (wie sie ihn nannte) nicht gekommen, denn der Teufel hätte ihn wohl auch nicht haben wollen und auch durch die Erleidung von Höllenqualen könnte eine solch gravierende Schuld nie ausgeglichen werden. In dieser Hinsicht war sie eine sehr strenge Richterin, von der ich viel gelernt habe. Sie war korrekt und ihren Prinzipien treu. So glaubte sie fest an die höhere Gerechtigkeit, den universellen Ausgleich, den wir mit unserem menschlichen Geist nicht erfassen können oder wollen.
Nachforschung über den Verbleib von Carl Thürkow,
der im Lager Fünfeichen bei Neubrandenburg verstorben war
Trotz dieser Aussagen lebte sie in Frieden mit sich selbst und freute sich, dass sie noch so viel gemeinsam mit uns erleben durfte. So gab es 1965 und 1966 unsere Konfirmationen, an denen viele Gäste aus dem Verwandtenkreise teilnahmen. Sogar an meiner (ersten) Hochzeit, die im Mai 1972 stattfand, hat sie teilgenommen. Sie lernte meinen damaligen Mann und dessen Familie aus Bad Pyrmont kennen und sogar meine Vorgesetzten der NATO Dienststelle in Ramstein. Ich zeigte ihr auch den Flughafen und die Housing-Area, wo ich lebte. Besonders in der Weihnachtszeit war Oma Martha von dem Lichtermeer und den festlich geschmückten Häusern überwältigt. Nur hiess es für uns beide bald Abschied von einander zu nehmen, denn ich zog um in die Niederlande und konnte meine Familie nicht mehr so oft besuchen. Bei unserem letzten Abschied wussten und spürten wir beide, dass wir uns nicht mehr wiedersehen würden. Unsere liebe Oma Martha starb am 3. August 1974 an Herzversagen in ihrer Wohnung in Bruchmühlbach. Unser Vater verstarb nach einer schweren Krankheit am 22. Mai 1982 im Krankenhaus Homburg. Es war der Hochzeitstag meiner Eltern. An diesem Tag lernte mein Vater meinen zweiten Mann Dario Rossi kennen, den ich 1984 in Mailand geheiratet habe und mit dem ich 2001 in die Toskana umgezogen bin. Unsere Mutter verstarb am 13. Februar 1992 an Herzversagen in Bruchmühlbach. Mein Bruder Karl Hans hat am 16. März 2003 Karin Both in Mecklenburg geheiratet und wohnt in der Nähe von Bruchmühlbach auf einem grossen bäuerlichen Anwesen. Mein Bruder ist bereits im Ruhestand und seine Frau arbeitet als Lehrerin. Weder mein Bruder noch ich haben Kinder und so wird dieser Zweig der Familie Thürkow keine Früchte tragen und auch unsere Erinnerungen werden langsam verblassen. Noch leben alle Mitglieder meiner Familie in meinen Erinnerungen weiter. So sehe ich Oma Martha manchmal in ihrer gewohnten Umgebung in Neukalen und dann sehe ich sie auch wieder in Bruchmühlbach, wie sie den Feldweg vor unserem Elternhaus gemächlich, auf ihren Stock gestützt, entlang geht. Wie sie stehenbleibt, die Felder betrachtet und mit ihrer Hand über die schon reifen Ähren streicht und mit den Fingerpitzen die Kornblumen leicht berührt und dabei lächelt.
Unsere Großmutter Martha Thürkow im hohen Alter
Personalausweis Martha Thürkow
Zu den Vorfahren Thürkow
1. Jacob Christian Thürkow, Hauswirt in Warsow (sein Vater war der Schulze Jacob Christian Thürkow in Glasow, Mutter: Grethe Viecke Thürkow, geb. Leverenz), geb. 26.8.1813 in Glasow, gest. 17.7.1881 in Neukalen an Lungenentzündung, er zog 1876 von Warsow nach Neukalen, Amtstraße 2, Ackersmann, Heirat am 9.9.1843 in Schorrentin: Witwe Maria Dorothea Kubbernuss aus Küsserow (sie war vorher verheiratet mit dem Hauswirt Johann Joachim Schuhmacher in Warsow), Kinder:
1.1. Wilhelmina Sophia Christiana Thürkow, geb. 18.2.1844 in Warsow, gest. 17.4.1844 an Grippe;
1.2. Ernst Joachim Heinrich Thürkow, geb. 19.3.1845 in Warsow, gest. 27.11.1854 in Warsow an Bräune;
1.3. Sophia Juliana Maria Thürkow, geb. 26.6.1847 in Warsow, gest. 13.12.1855 in Warsow an Gehirnentzündung;
1.4. August Theodor Johann Thürkow, geb. 4.2.1850 in Warsow;
1.5. Friederike Johanne Charlotte Thürkow, geb. 4.2.1850 in Warsow, gest. 22.10.1923 in Gehlsheim, sie heiratete am 9.11.1871 den Ackersmann Carl Martin Ludwig Soltmann in Neukalen;
1.6. Friedrich Christian Thürkow, geb. 28.9.1852 in Warsow;
1.7. Johanna Bertha Elise Thürkow, geb. 28.9.1852 in Warsow, gest. 12.11.1854 in Warsow an Bräune;
1.8. Theodor Johann Carl Thürkow, geb. 21.3.1855 in Warsow;
1.4. August Theodor Johann Thürkow, geb. 4.2.1850 in Warsow, gest. 4.1.1899 in Neukalen an Lungenentzündung, Ackersmann, Amtstraße 2, Heirat am 19.1.1877: Wilhelmine Sophie Henriette Fehlhafer (ab 16.8.1904: Fehlhaber), geb. 2.9.1849 in Neukalen, gest. 7.8.1927 Selbstmord durch Erhängen, Kinder:
1.4.1. Ina Christina Friederike Luise Thürkow, geb. 20.3.1878 in Neukalen, gest. 30.6.1939 in Neukalen als Witwe, Heirat am 14.12.1906: Wilhelm Möller, Arbeiter;
1.4.2. Ernst August Carl Thürkow, geb. 29.6.1880 in Neukalen, gest. 7.7.1880 an Kinnbackenkrampf;
1.4.3. Frieda Theodora Ottilie Thürkow, geb. 1.7.1881 in Neukalen, gest. 28.3.1943 in Ribnitz als Witwe, Heirat am 2.5.1902: Ernst Wilhelm Heinrich Friedrich Schnurstein, Erbpächter in Lelkendorf, geb. 11.2.1873 in Lelkendorf (Vater: Carl Joachim Theodor Schnurstein, Erbpächter in Lelkendorf);
1.4.4. Erna Caroline Wilhelmine Clara Thürkow, geb. 20.10.1883 in Neukalen, gest. 8.2.1954 in Neukalen, Heirat am 3.12.1909: Karl Friedrich Johann Ludwig Kosegarten, Ackerbürger;
1.4.5. Otto August Raimund Thürkow, geb. 7.2.1886 in Neukalen, Maler, Heirat am 5.6.1914 in Neukalen: Emma Luise Christiane Schefoth in Neukalen, geb. 3.2.1884 in Neukalen (Vater: Ackerbürger Heinrich Schefoth in Neukalen) gest. 10.7.1916 bei Thiepval (gefallen im Krieg), Landsturmmann im Garde-Füs. Reg.;
1.4.6. Karl Wilhelm Friedrich Thürkow, geb. 26.10.1888;
1.4.7. Marie Mathilde Ida Thürkow, geb. 15.5.1891 in Neukalen, Heirat am 3.11.1911 in Neukalen: Landmann Hans Karl Martin Peters in Minenhof, geb. 19.5.1882 in Gr. Giewitz (Vater: Vorwerkspächter Ernst Peters in Minenhof);
1.4.8. Anna Caroline Friedchen Thürkow, geb. 5.10.1892 in Neukalen, gest. 22.10.1984 in Neukalen, Heirat am 20.6.1913: Carl Fritz Alfred Wilken, Fuhrmann, Spediteur (geb. 29.7.1888, gest. 21.7.1958); Kinder:
1.4.8.1 Luise Wilhelmine Auguste Ina Wilken, geb. 1.12.1913 in Neukalen, gest. 1.1.1999 in Neukalen;
1.4.8.2. Elfriede Ina Erna Wilken, geb. 6.3.1915 in Neukalen, gest. 28.9.1916 in Neukalen;
1.4.8.3. ein vor der Taufe verstorbenes Mädchen, geb. 15.3.1923 in Neukalen, gest. 17.3.1923 in Neukalen;
1.4.8.4. Karla Maria Anna Auguste Luise Wilken, geb. 13.6.1927 in Neukalen;
1.4.8.5. Gertrud Ursula Auguste Hanna Wilken, geb. 16.7.1931 in Neukalen,
1.4.6. Karl Wilhelm Friedrich Thürkow, geb. 26.10.1888, gest. 1945 (?) in Fünfeichen, Ackerbürger, Heirat am 8.5.1914 in Lübkow: Martha Adolfine Berta Kohlmetz (geb. 31.1.1891 in Lübkow, gest. 3.8.1974), Kinder:
1.4.6.1. Karl Wilhelm Martin Thürkow, geb. 28.5.1915 in Neukalen, im Januar 1943 bei Stalingrad gefallen;
1.4.6.2. Hans Ernst Heinrich Thürkow, geb. 14.9.1916 in Neukalen, gest. 22.5.1982 in Homburg, Heirat am 22.5.1948: Albertine Feick, gest. 13.2.1992 an Herzversagen, Kinder:
1.4.6.2.1. Karl-Hans Thürkow, geb. 14.5.1950 in Bruchmühlbach;
1.4.6.2.2. Ingetraud Thürkow, geb. 31.3.1952 in Bruchmühlbach;