Kriegsende 1945 am Salemer Weg 10 zu Neukalen
Traute Scheel 1)
Meine Eltern und ich wohnten in Burg Stargard. Mein Vater brauchte nicht Soldat werden, weil er wegen einer Knieverletzung als kriegsuntauglich erklärt wurde. Er war Beamter bei der Reichsbahn in Neubrandenburg.
Ich war gerade 7 Jahre alt, Traute, als Tochter von Karl und Karla Spahr geb. Seemann, 1938 in Neukalen auf dem Hof meiner Großmutter Anna Seemann 2) geboren, als mein Vater hereinstürmte, meine Mutter bat, die wichtigsten Sachen zusammen zu packen, denn ein Triebwagen käme, der uns bis Malchin mitnehmen würde. „Wir müssen deine Mutter beschützen und ihr auf dem Hof beistehen! Die Russen sind im Anmarsch und können den Hof in Brand setzen“. Ich hörte es in der Ferne „donnern“. „Nein, nein, es wird geschossen, sie stehen schon bei Fürstenberg an der Havel!“ antwortete mein Vater ziemlich erregt.
Meine Mutter packte zwei Steppdecken und eine große Tasche, sowie eine für mich, und schon ging es im Eiltempo zum Bahnhof. In Malchin angekommen, warteten wir auf die Kleinbahn nach Neukalen. Endlich kamen wir um die letzte Kurve. Ich freute mich auf die Mühle, die direkt hinter unserem Hof in schwarz weiss erstrahlte. Ich sah sie und dachte, ob Karin Griebahn, meine Freundin von nebenan, Enkelin von Ida Griebahn, wohl auch dort wäre? Sie wohnte in Neubrandenburg in der Speicherstraße 20. Dann könnten wir wieder mit dem Puppenwagen an der Mühle vorbei über den Ackerrand zu Tante Betty 3) fahren. Sie hatte immer viel Humor und für uns Mädchen was zu naschen. Wir trafen sie immer alleine an.
Vom Bahnhof mit dem Bündel und den Taschen eilten wir zum Salemer Weg zu Oma. Sie war entsetzt und sagte: „Wat wullt jie denn hier?“ Mein Vater in seiner Uniform ließ Oma nicht lange reden. „Ich brauche einen langen Besenstiel und ein Bettlaken und werde beides auf dem Dach des Hauses befestigen, damit die Russen Dir nicht den Hof anstecken. Du mußt Deine wichtigsten Sachen in Sicherheit bringen!“ rief er aufgeregt.
Meine Mutter hatte eine Schwester, die in Lamprechtshagen bei Rostock lebte. Zuerst vermuteten wir, dass auch sie nach Neukalen gekommen wäre, aber sie hatte auch eine Familie und ihr Haus, das sie sicher nicht alleine lassen wollte.
Draußen war Lärm zu hören. Da standen plötzlich einige Flüchtlingstrecks vor dem Hof. Der Bürgermeister kam und sagte: “Anna, Du mößt de Minschen in dien Stallungen unnerbringen!“ Ich war völlig irritiert was nun alles passierte. Mit viel Wasser wurden die Stallungen gereinigt und mit Stroh und Heu bestückt, damit die Menschen sich ausruhen konnten, soweit es möglich war. Sie hatten Hunger und waren total erschöpft. Die Trecks standen später seitlich auf dem Grundstück meiner Großmutter.
„Das Getöse kommt immer näher“, meinte mein Vater. In dem langen Wohnzimmer saß ich gerne am Kachelofen, die Erwachsenen waren sehr aufgeregt und Appetit hatte auch niemand von uns. Ins Bett gehen konnten wir erst recht nicht. Das große Wohnzimmerfenster zeigte in Richtung Hardersche Mühle und nach Malchin. Plötzlich stand mein Vater auf und rief: „Malchin brennt, guckt Euch mal den Himmel an - er ist hellrot! Nachts halb zwei kamen sie über den Hügel, mindestens sechs stürmten herein, ihr Maschinengewehr im Anschlag, „Uri, Uri, Uri“, waren ihre Worte. Meine Mutter riss geistesgegenwärtig ihre und die Uhr ihres Mannes von den Handgelenken und gab sie ihnen. So ging es die ganze Nacht. Immer wieder kamen neue und forderten das Gleiche. Sicher waren sie auch in den Stallungen, aber davon weiß ich leider nichts.
Am anderen Morgen erschien der Bürgermeister erneut und sagte: “ Anna, Du häst Platz nauch, Du mösst ok noch föftein Russen upnähmen!“ Entsetzt mußte sie ihre drei Schlafzimmer frei machen, natürlich mit den besten Betten, alles mußte für die Männer bereit sein. Keine Tür durfte verschlossen werden. Dann kamen sie, stinkend und grölend mit Gold und Silber behangen, wollten sofort meine Mutter mit in die Zimmer nehmen. Wie es ihr gelang zu entkommen,weiß ich nicht. Sie hatte schon von den Flüchtlingen gehört, dass die Russen keine Gnade kannten und einige Frauen und Mädchen auf der Flucht vergewaltigt worden waren. Meine Oma und meine Eltern beschlossen, dass sich alle jungen Frauen, fünfzehn an der Zahl, einschließlich meiner Mutter, oben auf dem Boden hinten in dem alten Taubenschlag verstecken sollten. Die lange Leiter zum Heu- und Srohboden wurde anschließend weggenommen, damit niemand zum Boden Zugang hatte. Aber es half nicht lange. Die Russen waren überall, denn sie sahen in den Ställen sehr wohl nur ältere Frauen. Ich bekam manchmal einen kleinen Korb an die Hand mit paar Bratkartoffeln, um den Frauen, mit Hilfe meines Vaters, etwas zu essen zu bringen. Einer mußte immer Schmiere stehen. Wenn ich oben ankam, begann ich zu singen, dann wußten die Frauen, dass die Luft rein war. Manchmal klappte es aber gar nicht, und die armen Frauen mußten lange warten, bis jemand von uns wiederkam.
Wir, mein Vater, meine Oma und ich schliefen nun auf dem Boden auf dem Fußboden. Unsere guten Steppdecken waren nun sehr hilfreich. Ich kam am anderen Morgen von oben und dachte laut: „Frau Holle, Frau Holle!“ Atmen konnte ich nur mit der Hand vor dem Mund. Oma war fix und fertig. Mein Vater versuchte sie zu beruhigen. Die Russen hatten sämtliche Federbetten aufgeschlitzt und die Daunen und Federn flogen durch das gesamte Haus. Es war eine furchtbare Schweinerei, und es gab kein Entrinnen oder Erbarmen. Meine Oma durfte die Räume nicht betreten.
Mein Vater muss wohl oft nach den Frauen gesehen haben, die auch ihre Notdurft verrichten mußten, denn er erzählte Oma, dass eine junge Frau nicht ruhig genug war. Sie versetzte die anderen in noch mehr Aufregung. Es passierte zum Glück nichts. Ob sie zu den Flüchtlingen gehörte, glaube ich nicht, denn man sprach über eine Familie aus dem Ort. Ich bekam immer den Auftrag zu schauen, was die Russen machten und sofort darüber Bescheid zu geben hatte. Draußen auf dem quadratischen Hof befand sich zwischen den Eingängen zum Stall eine Falltür, die zu beiden Seiten hoch geklappt wurde, über Steinstufen in die Tiefe zu einem Reservekeller führte, in dem Schinken und Würste sowie andere Lebensmittel aufbewahrt wurden. Schnell wurde viel Stroh darauf gestreut, und wir Kinder durften darin spielen. Ich mußte den Mund halten. Abends im Bett habe ich oft geweint, weil ich Angst um meine Mutti hatte. Oma sagte dann: „Du mußt schlafen, morgen wird es wieder anstrengend für uns, und wir müssen gut aufpassen auf alles.
Die Frauen waren immer noch in ihrem Versteck. Plötzlich stand ein Russe mit dem Maschinengewehr im Anschlag vor meinem Vater, der stets seine Eisenbahnuniform trug. „Wo deine Madka!“ schrie er. „Hier meine Madka!“ sagte mein Vater. Ich hängte mich sofort an Oma´s Schürze. Und er ging zum Glück. Einige Tage später kam ein anderer, immer das MG vor dem Bauch, hielt einen Wasserhahn in der Hand und befahl meinem Vater, ihm den Hahn in die Wand zu schlagen, damit er Wasser bekäme. Mit Engelszungen und viel Diplomatie und Ruhe hat mein Vater ihm erklären können, wie die Leitung funktioniert.
Wieviele Tage inzwischen vergangen waren, als der Bürgermeister erschien, und zu Oma sagte, dass die Flüchtlinge in der Stadt untergebracht würden, kann ich nicht beschreiben. Er kam bald darauf wieder und verkündete, dass auch die Russen - ich glaube in das Rathaus - einquartiert werden würden.
So nach und nach kamen einige junge Frauen aus ihrem Versteck. Ich sehe sie noch vor mir, wie verwahrlost und abgemagert sie aussahen. Meine Mutti erschien mir sauberer, aber auch sehr ängstlich und alle waren sehr hungerig. Dennoch war ich überglücklich, dass ihr nichts passiert war, und ich sie endlich in die Arme nehmen konnte.
Oma durfte wieder auf die Weide gehen und ihre zwei Kühe melken. Das Pferd, das sie besaß, war verschwunden. Die Milch mußte peinlichst genau in der Molkerei abgeliefert werden.
Nachdem so allmählich Ruhe einkehrte, verkündete Oma, es müßten Rüben gehackt werden. Hinter unserem Hof und weiter hinter der Mühle standen wir vier, jeder mit einer Hacke in der Hand, als vier Russen von der Mühle her kamen. Den einen erkannte ich sofort. Er hatte feuerrotes, total krauses Haar und viele Orden an seiner Uniform. Alle Augen waren auf uns gerichtet. „Wenn die was von mir wollen, fängst du ganz doll an zu heulen!“ befahl meine Mutter. Und richtig, sie sollte mitkommen. Ich heulte was das Zeug hielt, und tatsächlich, sie zogen ab.
Nun heulte ich erst recht und konnte mich kaum beruhigen. Alle drei trösteten mich, aber ich konnte nicht aufhören zu weinen. Das war dann meines Wissens nach die letzte Attacke.
Mein Vater meinte, dass es an der Zeit sei, nach Burg Stargard fahren zu müssen. Ein Leiterwagen mit einem Pferd wurde besorgt, unsere kleine Habe unter Stroh versteckt; ich hatte oben drauf zu sitzen und mich ruhig zu verhalten. Meine Mutter machte sich ein altes Gesicht und so fuhren wir früh an einem warmen Frühlingsmorgen nach Hause und kamen zum Glück unbeschadet dort an. Unsere Wohnung war aufgebrochen, total verdreckt, und es stank bestialisch, weil wir in der Wohnung keine Toilette hatten. Ich wurde sofort zu Bekannten gebracht. Dort schlief ich einge Nächte. Meine Eltern übernachteten ebenfalls bei Freunden. Als man mich endlich nach Hause holte, war unsere Wohnung einigermaßen bewohnbar. Es roch noch lange sehr penetrant.
Meine Großmutter verstarb 1946. Meine Mutter und ich waren seitdem nie mehr in Neukalen.
1) Traute Scheel, geb. Spahr wurde am 13.4.1938 in Neukalen geboren.
Sie wohnt heute in Rotenburg / Wümme
2) Anna Wilhelmine Henny Seemann, geb. Eggert, geb. 13.1.1890
in Neukalen, war verheiratet mit dem Ackerbürger Karl Ludwig August
Seemann, geb. 15.11.1887 in Neukalen, gest. 23.11.1915 in Neukalen.
Sie wohnte seit etwa 1914 in dem 1892 erbauten Haus am Salemer Weg,
welches bis 1895 dem Müller Ernst Schröder und danach bis 1898
dem Müller August Klingenberg gehörte. Anna Seemann starb am 20.7.1946.
3) Martha Emma Betty Seemann, geb. Gülther, geb. 2.9.1892 in Barnim,
war verheiratet mit dem Ackerbürger Johannes August Martin Seemann,
geb. 23.2.1885 in Neukalen. Sie wohnten in der Straße der Freundschaft 23.
Grundstück Salemer Weg 10 (um 1955)
Der Salemer Weg um 1955
Weg zur Grambow´schen Mühle zwischen den Häusern
Salemer Weg 10 + 8 (1976)
Wohnhaus Salemer Weg 10 (1981)