Jüdisches Stiftshaus
17154 Neukalen
Das jüdische Stiftshaus in der Wasserstraße.
Es wurde 1843 erbaut und im Herbst 2009 umfangreich saniert.
(Baudenkmal im Sinne des Denkmalschutzgesetzes für Mecklenburg-Vorpommer)
Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Neukalen
Werner Schröder / Wolfgang Schimmel
Der erste schriftliche Nachweis jüdischer Einwohner in unserer Stadt stammt vom 31. März 1757. Aus einem erhalten gebliebenen Protokoll geht hervor, daß zu diesem Termin die Schutzjuden Israel Marcus und David Hersch ihr Schutzgeld ordnungsgemäß entrichteten. Drei Jahre später sandten die Neukalener Israeliten eine Bittschrift an den Herzog von Mecklenburg - Schwerin. Dieses Dokument erlaubt uns einen anschaulichen Einblick in die komplizierten gesellschaftlichen Verhältnisse, die vor nunmehr 230 Jahren in unserer Heimat herrschten und von denen die Israeliten auf Grund ihrer Lage besonders betroffen waren. Es sei deshalb an dieser Stelle voll inhaltlich zitiert:
"Durchlauchtigster Hertzog
Gnädigster Hertzog und Herr!
Ew. Hertzogl. Durchlaucht. werden nicht ungnädig bemerken, wenn höchst dieselben wir Submissest hiemit folgendes anzeigen.
Es ist Notorisch, daß wir 3 Schutz Juden, Nahmentlich, ich Hinrich Jacob, Israel Marcus, und David Hirsch, alhier zu Neuen - Kahlden mit gnädigsten Privilegien uns Niedergelaßen, und hieselbst alleine sind. Bey denen einigen Jahren fort gedaureten Krieges Unruhen, ist uns am läßig- und beschwerlichsten gefallen, an denen Festtägen, oder an Unsren Schabbass, entweder nach Dargun, oder Malchin uns zu denen Juden zuverfügen, ümb den Gottesdienst daselbsten zuhalten, welches nicht alleine mit unsäglichen Unkosten Verknüpffet, sondern auch uns in der Handlung sehr nachtheilig gefallen. Um diesem nun vorzukommen, haben wir schon vor etwa 2 Jahren als Knechte 2 Pursche, Nahmens Samuel Levin, und Meyer Levin, zu uns genommen, damit diese mit uns, und wir mit Ihnen desto leichter, und mit mehrerer Bequemlichkeit unsern Gottesdienst hieselbst selbst halten könten. Mit diesen haben wir jedes mahl unsern gottesdienst ruhig, und ungestöhret, in unsre Sinajoge gehalten.
Diese beyde Juden, und Cameraden sind daher schon vor einiger Zeit entschlossen gewesen, ein Hertzogliches gnädigstes Privilegien unterthänigst nach zu suchen; haben aber, obgleich sie sich Jederzeit Stadt kündig, redlich und wohl aufgeführet, wegen denen bisherigen schlechten Krigerischen Zeiten, und Umbständen, zu Ihren Endzweck nicht gelangen können, sondern haben ihren Verdienst bey der Kgl. Schwedischen Arme, als Marquetenters mühsamlich suchen müßen. Wie sie sich dabey nunmehro einen Schilling erwerben, und also endlich zu einen ordentlichen Besitz zugelangen, ein sehnliches verlangen tragen; so sind sie gewillet, Ew. Hertzogl. Durchl. üm Erlangung eines Handelungs privilegii allendlich Fußfälligst anzutreten. Wir können daher nicht umhin, Ew. Hertzogl. Durchl. hiedurch unterthänigst anzutreten, mit flehentlichster Bitte, höchst dieselben geruheten gnädigst, beyden Levinen in ihrem gesuch eine Fürstmildeste Erhörung finden - und des Endes ihnen ein gnädigstes Privilegium angedeyen zulaßen, damit wir beysammen bleiben, und unsern Gottesdienst fernerhin daselbst behalten können. Wir getrösten uns Landes Väterl. gnädigster Erhörung und beharren in tieffer niedrigkeit.
Ew. Hertzogl. Durchlaucht
Supplicatum unterthänige
Neuenkahlden Hirsch Jacob
d 17 Decembr 1760 David Hirsch"
Es gab also 1760 in Neukalen bereits fünf männliche Juden, davon drei privilegierte Schutzjuden. Die Bearbeitung der Bittschrift der Neukalener Israeliten durch die herzogliche Administration dauerte anscheinend seineZeit, denn erst am 3. Oktober 1763 werden Meyer und Samuel Levin als Schutzjuden erwähnt. Das Schutzgeld, das zweimal jährlich fällig war, zahlten an diesem Tag neben den beiden genannten: David Hersch, Israel Marcus, Hirsch Jakob, Samuel Salomon und Salomon Levin. Außerdem wird der Name "Levinsche" genannt, vermutlich die Witwe eines Neukalener Schutzjuden. Die israelitische Gemeinde bestand zu dieser Zeit aus acht Mitgliedern, während die Zahl der Familienangehörigen nicht bekannt ist. Wir können also davon ausgehen, daß die ersten Einwohner mosaischen Glaubens um die Mitte des 18. Jahrhunderts seßhaft wurden.
Die erste jüdische Einwanderung in Mecklenburg hat Neukalen wohl nicht berührt. Während 1266 in Wismar, 1267 in Boizenburg und 1279 in Rostock jüdische Gemeinden genannt werden und zur gleichen Zeit auch in Parchim, Güstrow, Röbel, Sternberg, Schwerin und Neubrandenburg Israeliten ansässig waren, ist eine jüdische Ansiedlung in Neukalen nicht nachzuweisen.
Die erste Besiedlung Mecklenburgs durch Menschen jüdischen Glaubens fand 1492 ein jähes und schreckliches Ende. Im Ergebnis des sogenannten Hostienprozesses in Sternberg wurden 25 männliche und 2 weibliche Juden öffentlich verbrannt. Alle mecklenburgischen Israeliten wurden des Landes verwiesen, ihr Vermögen eingezogen. Es mußten etwa 2 Jahrhunderte vergehen, bevor sich wieder Juden in unserer Heimat ansiedeln durften.
Für die dauernde Niederlassung in einer mecklenburgischen Stadt war die Erteilung eines Schutzbriefes durch die herzogliche Regierung erforderlich. Dieser gab dem Inhaber und seiner Familie bei allen Beschränkungen und Benachteiligungen gegenüber der christlichen Bevölkerung doch eine gewisse Rechtssicherheit.
Er gewährte den Schutzjuden folgende Rechte:
- an einem festgelegten Ort zu wohnen
- Handel zu treiben (in der Hauptsache handelte es sich um Hausierhandel; zur Führung eines Ladengeschäftes war
eine spezielle Konzession des Landesherrn erforderlich)
- jüdische Knechte zu halten
- innerhalb des eigenen Glaubens zu heiraten
- die Religionsausübung wurde gewährt
Verboten war der Erwerb von Grundbesitz und die Ausübung eines zunftmäßigen Gewerbes. Schutzjuden besaßen keine staatsbürgerlichen Rechte, auch nicht das städtische Bürgerrecht. Die israelitischen Gemeinden in Mecklenburg - Schwerin besaßen zur damaligen Zeit eine gewisse Selbstverwaltung, die auch eine eigene Gerichtsbarkeit einschloß. Die letztere beschränkte sich allerdings nur auf Rechtsstreitigkeiten zwischen Personen mosaischen Glaubens. Außerdem oblag ihnen die Armen- und Krankenfürsorge für ihre Glaubensgenossen.
Vom 21. bis 23.12.1758, also während des 7jährigen Krieges (1756-1763), unter dem auch Mecklenburg - Schwerin trotz offizieller Neutralität sehr zu leiden hatte, besetzten die preußischen Bataillone von Lossow und von Petersdorf die Stadt Neukalen. Dieses Ereignis ist im Rahmen unserer Abhandlung insofern von Interesse, als aus den noch vorhandenen Quartierlisten hervorgeht, daß der Schutzjude Israel Marcus 7 Soldaten unterzubringen und zu beköstigen hatte. Mecklenburg - Schwerinsche Untertanen mosaischen Glaubens wurde aber offiziell erst 1786 der Erwerb von Hausgrundstücken erlaubt. Die Tatsache, daß es in unserem Heimatort bereits einige Jahrzehnte vorher jüdischen Hausbesitz gab, ist als Beweis zu werten, daß die Praxis die mittelalterliche Gesetzgebung bereits zu überholen begann.
Insgesamt gesehen, war die Lage der Juden im damaligen Neukalen jedoch äußerst unsicher. Die meisten jüdischen Einwohner lebten in sehr beschränkten Lebensverhältnissen und waren ständig von der Ausweisung aus dem Lande bedroht.
Am 23. Juni 1770 schrieb der Neukalener Schutzjude Samuel Levin an den Herzog:
"Ew. Herzogl. Durchl. Landesväterliche Gnade gegen höchst dero unterthanen, ist zu groß, als daß Höchstdieselben in Ungnaden bemerken solten, wenn ich nochmahls in der tiefsten Ehrfurcht für den Throne fusfälligst meinen Mitleids vollen Zustand bekenne. Auf meine unterthänigste Bitte um Abminderung der 12 Rthlr. Schutzgeld haben E. H. D. gnädigst zu respondiren geruhet: daß ich mein Privilegium einsenden, und Höchst dero Lande räumen soll, fals ich die 12 Rthlr. nicht mehr aufbringen könte. Wäre meine Noth nicht so groß, wie gerne wolte ich die mir aufgelasten Praestanda prestiren, und E. H. D. nicht so sehr mit meinen Bitten behelligen.
Der Jammer meiner 4 kleinen Kinder, denen ich Brod zu schaffen mich verbunden halte, schneidet mir ins Herz, und dennoch verbieten die iezigen elenden Zeiten mir fast diese Pflicht. Vor den Füßen E. H. D. bitte ich dahero in der tiefsten Unterthänigkeit, meinem Jammer ein gnädiges Mitleid zu gönnen und die Gnade zu haben, mir nur auf einige Jahre 6 Rthlr. von meinem Schutzgelde zu erlaßen. In Erwartung einer höchstgnädigen Erhörung meines unterthänigen Gesuchs ersterbe ich in d. Tiefsten Verehrung
Nienkalden E H D Unterthänigster
den 23ten Junii 1770 Samuel Levin"
Diese Bitte des Samuel Levin wurde durch die städtische Behörde unterstützt. In einer "Beylage zu der Bittschrifft des Schutzjuden Samuel Levin" nahm sie wie folgt Stellung:
"Nachdem der hiesige Schutz Jude Samuel Levin verlanget von seinen Umständen ein beglaubtes Zeugniß zu geben; so haben der Wahrheit gemäß wir uns nicht entziehen können zu bescheinigen, daß er schon ein bejahrter Mann, viele Kinder und seine Umstände sehr schlecht, so daß er auch seit 2 Jahren keine Waaren mehr halten, noch weniger damit Verkehr treiben könne.
Nienkalden den 1ten Dec. 1769
Bürgermeister und Rath hies."
Erhalten geblieben ist auch die "unterthänigste Berichterstattung des Amtmann Souhr zu Nienkalden über die Umstände und den Wandel des Schutz Juden Samuel Levin zu NKalden" (13. 12. 1770):
"In unterthänigster Befolgung des mir unter dem 15ten v. M. gnädigst zugegangenen höchsten Befehls, mich nach den Umständen und den Wandel des Nienkaldenschen Schutz Juden, Samuel Levin, zu erkundigen, und pflichtmäßig Bericht zu erstatten, zeige ich E. H. D. hiedurch in aller Devotion an, daß die Umstände des gedachten Juden in der That elend und mitleidenswürdig sind. Bey einem ehrlichen und unsträflichen Wandel sucht er sein Brod kümmerlich vor sich und seine 4 Kinder durch einen Handel mit Federn, die er auf dem Lande mühsam zusammenkauft, und dann wieder anzubringen sucht. Indeßen ist die ganze Niederlage seiner Waren nicht 5 Rthlr. werth, und kaum ist es begreiflich, wie er das liebe trockene Brod davon haben könne. Dies ist es was ich gewißenhaft von ihm unterthänigst melden muß, und ich bekenne bey dieser gelegenheit dieienige tiefe Verehrung, in welcher ich ohne Ende bin. E. F. D. Souhr"
Da es zu diesem Vorgang keine weiteren schriftlichen Hinweise gibt, bleibt das Schicksal des Samuel Levin und seiner Familie im Dunkel. Es ist aber zu vermuten, daß sie in Neukalen bleiben konnten, denn die Schutzjuden Meyer Levin und Hersch Jacob, die ebenfalls 1770/1771 ausgewiesen werden sollten, durften letztendlich auf Entscheiden des Herzogs in Neukalen bleiben. Dem Meyer Levin wurde am 24.8.1771 das fällige Schutzgeld von 12 auf 6 Rthlr. abgemindert. Die gepfändeten Sachen sollte er zurückerhalten.
Im Fall des Jacob Levin, einem Stiefsohn des Hersch Jacob, erfolgt allerdings die Ausweisung aus der Stadt. Den Antrag dazu stellte die israelitische Gemeinde, bzw. einige Gemeindeglieder selbst. Jacob Levin besaß in Neukalen kein Schutzrecht. Er hatte Michette Mendels geheiratet, die nebst ihrem zukünftigen Ehemann seit 1759 in Plau privilegiert war. Seine Glaubensgenossen warfen ihm in einem Schreiben an den Herzog vom 20. September 1762 vor:
"daß mehrerwehnter Jacob Levin sich nicht nur allhier beständig aufhält, sondern auch so gar unternimbt, durch unerlaubten Betrieb einer starcken Handlung, uns, in unsern Erwerb und Nahrung dergestalt zu beeinträchtigen, daß uns weiter nichts als das betrübte und leere Nachsehen übrig bleibet."
Am 18. Oktober 1762 schrieb nun Jacob Levin unter anderem an den Herzog:
"Weil meine beide Ältern, bejahrt und sehr schwächlich sind, so haben wir uns seit unser Verheurathung bishero allhie aufgehalten, aber gleichwol das Schutz - Geld zu Plau stets richtig erleget." Und weiter schreibt er, "sind wir schon im julio a. c. entschlossen gewesen, uns nach Plau zu begeben. Allein mein Vater ward sehr schwach. Jetzo erwartet meine Frau täglich ihre Niederkunfft und mit dem Kinde im Winter zu reisen, könnte demselben leicht gefährlich sein." Der Brief endet mit der Bitte: "Derowegen bitte ich unterthänigst, Ew. Hertzogl. Durchl. geruheten gnädigst, mir zu verstatten, daß ich bis Ostern 1763 allhie verbleiben möge und desfals behufige Verordnung an den Herrn Amtmann hieselbst zu erlaßen." Diesem Anliegen wurde stattgegeben, wobei sich positiv auswirkte, daß Jacob Levin nicht nur in Plau, sondern auch in Neukalen 12 Rthlr. Schutzgeld zahlte, eine zusätzliche Einnahme für den Herzog. Das Verhalten der israelitischen Gemeinde Neukalens zu ihrem Glaubensgenossen Jacob Levin steht auf den ersten Blick in völligem Widerspruch zum stark entwickelten Zusammengehörigkeitsgefühl der damaligen Juden. Wegen der eigenen wirtschaftlichen Misere, die durch die Auswirkungen des 7jährigen Krieges noch verstärkt wurde, mußten sie jede zusätzliche Konkurrenz fürchten. Andererseits war es wohl auch das Bestreben, unter keinen Umständen gegen die herzogliche Judengesetzgebung zu verstoßen, das die Neukalener Judengemeinde zu ihrem Schreiben an den Herzog veranlaßt hat. Nichtjuden hätten sich in ähnlicher Lage kaum anders verhalten.
Aus den aus dieser Zeit überkommenden Archivunterlagen ist auch nachzuweisen, daß es unter den Angehörigen des mosaischen Glaubens doch schon beträchtliche soziale Unterschiede gab. In einer Auflistung der kriegsbedingten Geldausgaben für den Zeitraum 1760/63 ist unter dem 10. April 1760 vermerkt: "... dem Juden Juda, daß er das Geld, beide Poste, aus Demmin verschaffet 15 Rthlr." Die Höhe der beiden beschafften Geldbeträge wird nicht genannt. Geht man jedoch von den gezahlten 15 Rthlr. Provision aus, so muß es sich um größere Summen gehandelt haben. Da ein Israelit namens Juda zur damaligen Zeit in unserer Stadt nirgends Erwähnung findet, muß es sich um einen auswärtigen Juden gehandelt haben. Wir können davon ausgehen, daß von den in Neukalen ansässig gewesenen Israeliten keiner wohlbabend genug war, um der Stadt finanziell zu helfen. Makaber ist auch, daß Neukalen sich im preußischen Demmin Geld leihen mußte, um die durch die Übergriffe preußischen Militärs verursachte finanzielle Notlage zu überwinden.
In dem anfangs zitierten Bittschreiben der Neukalener Judenschaft an den Landesherrn ist eine Synagoge erwähnt, in der seit 1758 Gottesdienste durchgeführt wurden. Über Standort und Ausstattung dieser ersten jüdischen Kultstätte ist nichts überliefert. Wir können wohl davon ausgehen, daß es sich um eine Betstube handelte, die zur Wohnung eines jüdischen Gemeindemitgliedes gehörte.
Ebensowenig sind wir aussagefähig, wann der jüdische Friedhof Neukalen angelegt wurde. Als 1765 "die Besamung einiger Ackerstücke auf der schwarzen Erde mit Tannensamen" erfolgte, und somit die heutigen Judentannen entstanden, wird ein jüdischer Begräbnisplatz in den vorhandenen Quellen nicht erwähnt. Der älteste schriftliche Hinweis zum israelitischen Friedhof ist mit dem 9. Juli 1829 datiert. Unter diesem Datum richtete der Vorsteher der jüdischen Gemeinde, Soldin, an den Neukalener Magistrat einen Antrag auf Vergrößerung des Begräbnisplatzes der hiesigen Judengemeinde, "gelegen in der städtischen Tannenwaldung, bei der sogenannten schwarzen Erde". In dem Schreiben wird diese Bitte damit begründet, daß der vorhandene Platz durch hinzukommende Leichen zu sehr beengt wird. Es wird um eine kleine Vergrößerung von etwa 40 Fuß Länge und 20 Fuß Breite (etwa 12 x 6 Meter) gebeten. Es spricht für das gute Verhältnis, das damals zwischen der Neukalener Bevölkerung und der jüdischen Glaubensgemeinschaft geherrscht haben muß, wenn Bürgermeister und Rat bereits mit Schreiben vom 23. Juli 1829 diese Angelegenheit positiv beantworteten. Aus den entsprechenden Unterlagen geht hervor, daß der Viertelsmann Meyer die gewünschte Fläche schon vermessen hatte. An ihn waren 2 Reichsthaler Anweisungsgeld zu entrichten. Weitere Kosten wurden nicht berechnet. Die israelitische Gemeinde erhielt die Fläche in Genießbrauch und hatte innerhalb eines Jahres für eine anständige Einfriedigung zu sorgen, während die Stadt Grundeigentümer blieb.
Über die Errichtung eines Badehauses, das rituellen Zwecken diente, durch die israelitische Glaubensgemeinschaft sind wir aussagefähiger. In einem Protokoll vom 13. April 1817 heißt es: "Es erschien der Schutzjude Saalfeld und zeigte an: Die hiesige Judenschaft habe sich entschlossen, ein Badehaus zu bauen. Es fehle ihnen aber bis jetzt noch eine paßliche Stelle dazu und daher wolle er den löblichen Magistrat hieselbst gehorsamst ersuchen, ihnen zu diesem Zweck eine paßliche Stelle entweder beim Rathsteich (Ratmannsteich) oder an der Bleiche, wo es die Judenschaft in Übereinkunft mit dem löblichen Magistrat am gerathensten findet, anzuweisen." Der Kaufvertrag wurde am 24. November des gleichen Jahres abgeschlossen. Das Baugrundstück wird etwas umständlich folgendermaßen beschrieben:
"Stelle unweit des Malchiner Thores, rechter Hand hinter der dort noch gelegenen wüsten Baustelle am äußersten Ende des dort gelegenen Stadtgartens, welchen der Kühler Westphal in Genießbrauch hat, als die paßliche."
Ortskundige werden erkennen, daß es sich dabei um das Grundstück handelt, das in jüngerer Zeit dem bekannten Arzt Dr. Rademacher gehörte. Auf diesem Grundstück verkaufte seinerzeit die Stadt Neukalen "ein Stück Land, 18 Fuß lang und 24 Fuß breit, für 10 Reichsthaler". Das Eigentum an diesem Stück Land wurde der hiesigen Judenschaft und ihrer Nachkommenschaft vertraglich zugesichert. Die Stadt behielt sich das Rückkaufsrecht vor, wenn der Platz nicht mehr von den jüdischen Einwohnern benötigt wird. Das scheint noch im vorigen Jahrhundert der Fall gewesen zu sein, denn im Zusammenhang mit der Auflösung der israelitischen Gemeinde Ende des 19. Jahrhunderts wird das Badehaus nicht mehr erwähnt.
Die fortschreitende Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert ist auch für Neukalen zu belegen. Um 1812/13 gab es in unserer Heimatstadt bereits folgende Hausbesitzer mosaischen Glaubens: Heymann Gottschalk, Juda Samuel, Wolff Leddermann und Julius Saalfeld. Laut mecklenburgischem Staatskalender waren 1812 in Neukalen 9 Schutzjuden ansässig. Somit hatte fast die Hälfte von ihnen zu dieser Zeit eigenen Hausbesitz. Die mit dem Befreiungskrieg gegen die französischen Eroberer verbundenen bürgerlichen Reformen räumten alle Beschränkungen, denen die Israeliten in den deutschen Ländern bis dahin unterworfen waren, erst einmal aus. Dem Edikt des preußischen Königs vom März 1812 folgend, wurden 1813 auch die israelitischen Einwohner Mecklenburg - Schwerins Staatsbürger mit vollen Rechten und Pflichten. Wenn auch vier Jahre später die bürgerlichen Rechte der mecklenburgischen Juden auf Drängen besonders der Ritterschaft noch einmal aufgehoben wurden, auf die Dauer war der gesellschaftliche Fortschritt nicht mehr aufzuhalten. Die jüdischen Einwohner beider Mecklenburg stellten während des Befreiungskrieges ihren Patriotismus unter Beweis. Die Bittschrift der Altstrelitzer Juden von 1813 wegen Beteiligung zur Verteidigung des Vaterlandes ist dabei kein Einzelbeispiel. Die gleiche Haltung ist auch für die Neukalener Israeliten nachzuweisen. Zur 10. Rotte des Landsturms 2. Klasse, der sich damals in unserem Heimatort formierte, gehörten nachstehende Neukalener Einwohner:
1. Philipp Löwenthal
2. Heinrich Bernhard
3. Leopold Matthaei
4. Heinrich Salinger
5. Jacob Salender
6. David Löwi
7. Abraham Berg
8. Abraham Michaelis
9. Wullf Leddermann
10. Gottschalen Soldin
11. Jacobs Sohn
12. Tagelöhner Geertz
13. Tagelöhner Dohmann
14. Thorwärter Schultz
15. Heinrich Kruse
16. Tagelöhner Bruhn
17. Lindemann
18. Demzin
Als Unteroffizier fungierte der Stadtdiener Fidler
Diese Formation des Neukalener Landsturms bestand also, wie aus der Aufstellung hervorgeht, mehrheitlich aus Juden. Der Rest der Mannschaft rekrutierte sich aus Tagelöhnern und anderen Bürgern, die wohl auch nicht zu den Oberschichten der Einwohnerschaft Neukalens gehörten. Die auf ihre überlieferten Rechte stolzen Ackerbürger und Handwerker unserer Heimatstadt waren damals noch nicht bereit, sich mit Israeliten auf eine Stufe zu stellen, und sei es auch zum Zwecke der Befreiung des Vaterlandes. Aber auch das änderte sich mit der Zeit. Am 18.1.1842 richtete der Schutzjude H. Freudenthal gemeinsam mit anderen Schützenbrüdern die Bitte an den Magistrat, einen Teil der Schützenzunft mit Uniformen auszustatten. Allein schon die Tatsache, daß ein Israelit Mitglied einer Schützenzunft werden konnte, war ein Sieg der Vernunft über die mittelalterliche Intoleranz. Noch deutlicher zeigt sich dieser Trend aber darin, daß Freudenthal am 20.6.1846 als Unteroffizier der Schützenzunft erwähnt wird und sieben Jahre später zum "Lieutenant" gewählt wurde.
Eine Aufstellung der Einwohner unserer Stadt vom September 1819 gestattet ebenfalls interessante Einblicke in die Entwicklung der jüdischen Gemeinde und ihrer Lebensumstände. Seinerzeit gab es zehn Familien jüdischen Glaubens, 37 Erwachsene und 24 Kinder (5-15 Jahre). Von ihnen sind 43 Personen bereits in Neukalen geboren. Sieben Israeliten haben als Geburtsorte Halberstadt, Schweinfurt, Grünstädt, Golldtien, Schaumeissel und in zwei Fällen Altona angegeben. Bis auf die beiden letzten handelte es sich um männliche Juden, der Rest der damaligen Neukalener Judengemeinde stammte aus den Nachbarstädten Malchin, Dargun und Gnoien sowie aus einigen anderen Orten beider Mecklenburg. Während die Mehrzahl der männlichen Juden nach wie vor als Handelsleute tätig waren, gibt Wolff Leddermann als Beruf Parasolmacher (Schirmmacher?) an, und Schmud Salinger, 17 Jahre alt, ist zu dieser Zeit als Schneidergeselle auf Wanderschaft.
Etwa zur gleichen Zeit änderten die Neukalener Juden ihre Namen:
Michael Abraham in Abraham Berg
Wolf Ledermann in Wilhelm Ledermann
Lehmann Meyer in Leopold Matthaei
Jacob Salomon in Jacob Saländer
David Levi in David Löwe
Heimann Gottschalk in Gottschalk Soldin
Hirsch Salomon in Heinrich Salinger
Dieser Namenswechsel ist aus einer "Registratur" ersichtlich, leider ohne Datierung (doch sicher vor 1830). Da in einer Einwohnerliste von 1819 die Israeliten überwiegend bereits mit den neuen Namen aufgeführt sind, muß die Namensänderung etwa um 1820 erfolgt sein.
Im Verlauf der revolutionären Ereignisse 1848/49, die auch das konservative Mecklenburg nicht unberührt ließen, erhielt Mecklenburg - Schwerin eine konstituelle Verfassung. Darin wurde auch die politische und wirtschaftliche Gleichstellung israelitischer und christlicher Bürger festgeschrieben. Allerdings unternahm Mecklenburg-Strelitz bald gerichtliche Schritte, da durch die Schweriner Verfassung die Festlegungen des Erbvergleiches, der 1754 zwischen beiden mecklenburgischen Staaten abgeschlossen worden war, außer Kraft gesetzt wurde. Die Strelitzer Obrigkeit erreichte auch im Freienwalder Schiedsspruch von 1850, daß in Mecklenburg - Schwerin die alten Verhältnisse wieder hergestellt wurden. Erst 1869 beschloß der Norddeutsche Bund, dem auch Mecklenburg - Schwerin angehörte, die völlige Gleichberechtigung aller Konfessionen. Damit war die Emanzipation der Israeliten, zumindestens juristisch, festgeschrieben.
Für Neukalen ist aus dieser Zeit belegt, daß die jüdischen Einwohner Adolph W. Cohn, Ascher, Lipmann, M. Löwi und Hirsch das städtische Bürgerrecht beantragten und erhielten. Stellvertretend der Antrag des Kaufmann Cohn:
"Am 24ten v. M. erlaubte ich mir durch eine Registratur zur Bürgerannahme zu melden, und erhielt ich auch die Antwort, daß solches die ersten Tage geschehen soll. Es liegt ein Schreiben des Herrn Bürgermeisters Mau bei der allgemeinen Kaufmannschaft vor, worin denselben zur Erstellung der Beiträge zur Armenkasse zwei Deputierte unter sich zu wählen aufgegeben wurde. So lange ich kein Bürger, bin ich zu dieser Beschliessung unfähig, und erlaube ich mir hiermit an den hochlöblichen Magistrat mit der Bitte zu wenden, auf meinen Antrag Bürger zu werden Anstand zu nehmen, und solches gefälligst recht bald zu veranstalten, damit ich an diese Verhandlung theilnehmen kann.
Ich hoffe, keine Fehlbitte zu thun habe ich die Ehre mich zu zeichnen
gehorsamst Adolph W Cohn
Neukalden den l5ten Märtz 1849"
Vom Magistrat kam dazu folgende Stellungnahme:
"Resp. dem Kaufmann Cohn hieselbst daß in der nächsten Raths- u Bürgersitzung über den Beitritt der Judengemeinde zur städtischen Armenkasse beschlossen werden soll, im Uebrigen aber die Recention der jüdischen Einwohner, welche solche beantragt, zu Bürgern erst in der folgenden Woche geschehen kann.
Neukalden 15 März 1849
LM W St"
Am 30. März erhielten dann die Antragsteller das städtische Bürgerrecht.
Welche geachtete Stellung jüdische Einwohner sich in der Mitte des vorigen Jahrhunderts in unserer Heimatstadt erworben hatten, ist auch daran zu erkennen, daß 1850 der Vorstand des hiesigen Local - Handels - Vereins aus August Ascher, J. T. Wagenknecht und dem Schriftführer Adolph Cohn bestand. Von drei Mitgliedern dieses Gremiums waren somit zwei mosaischen Glaubens.
Im Jahre 1843 erhielt die israelitische Gemeinde eine neue Synagoge. Sie wurde auf Grund einer Schenkung von Nachkommen Neukalener Juden erbaut. Gleichzeitig wurde ein Stiftshaus für bedürftige Witwen errichtet. Beide Gebäude waren in der Wasserstraße gelegen.
Die Schenkungsurkunde hat folgenden Inhalt:
"Schenkungs - Acte
Da wir Endes unterschriebene Alexander Julius Saalfeld in Hamburg und Bernhard Julius Saalfeld in Altona uns entschlossen haben zu Ehren unserer seeligen Eltern, des zu Neukalden am 24. Mai 1827 verstorbenen Juda Samuel Saalfeld und dessen zu Hamburg am 26. August 1842 verstorbenen Wittwe Hindel, geb. Berendt Hirsch, in Neukalden eine Synagoge und neben derselben ein Wittwenhaus erbauen und einrichten zu lassen, demnächst aber der Juden-Gemeinde zu Neukalden zum vollen Eigenthum unentgeldlich zu überlassen und da besagte Gemeinde unser Erbieten unter Verwillkührung der von uns gemachten Bedingungen durch ihren Vorstand nützlichst angenommen hat, so ist nunmehr die gegenwärtige Schenkungs - Urkunde in duplo ausgefertigt und unterschriftlich vollzogen worden.
§ 1.
Wir verpflichten uns nämlich hiedurch in Neukalden einen Platz zu erwerben und darauf eine Synagoge, sowie ein nach § 3 zu Freiwohnungen bestimmtes Haus für unsere Rechnung und Kosten erbauen und demnächst diese Grundstücke schuldenfrei der Juden - Gemeinde zu Neukalden in das dortige Stadtbuch eintragen zu lassen. Wir werden nicht ermangeln, hiezu die Genehmigung des löblichen Magistrats zu Neukalden dessen wohlwollenden Schutz und Obhut wir zugleich die von uns beabsichtigte Stiftung empfehlen, geziement nachzusuchen.
§ 2.
Wir verpflichten uns ferner auch für die innere Einrichtung und Ausschmückung der Synagoge in allen ihren Theilen zu sorgen, dergestalt, daß der Gemeinde das Gotteshaus mit allen Gegenständen, welche wir zu dessen innerer Einrichtung und Ausschmückung erforderlich halten, überliefert wird.
§ 3.
Das neben der Synagoge zu erbauende Haus soll drei Wohnungen enthalten und zwar zu folgenden ausdrücklich festgesetzten Bestimmungen, nämlich
a) eine Wohnung für den Gemeindelehrer
b) eine, für eine arme jüdische Wittwe
c) eine, für eine arme christliche Wittwe
§ 4.
Die Verwaltung des Stifts soll durch den jedesmaligen Gemeinde - Vorstand gemeinschaftlich mit zwei andern dazu qualificirten Männern geführt werden, die vor allem, so lange in dortiger Gemeinde mit uns verwandte oder verschwägerte Personen sich befinden, aus diesen gewählt werden sollen. Befinden sich aber deren keine mehr alldort am Leben, so sollen obseiten des Oberrabbiners in Schwerin, oder dessen Amtsvertreter, zwei Männer aus der Gemeinde in Neukalden zu Mitverwaltern gewählt werden.
§ 5.
Die beiden für zwei Wittwen bestimmten Freiwohnungen sollen nur an solche Frauen, deren Lebenswandel tadellos ist und welche sich verpflichten müssen, die Wohnungen stets in einem reinlichen und ordentlichen Stande zu erhalten, verliehen werden, und soll die Wahl derselben in folgender Weise Statt finden: die jüdische Wittwe soll allein abseiten der Administration des Stifts unter denjenigen, welche sich in Folge vorgängiger Aufforderung bei dem Gemeinde - Vorsteher schriftlich gemeldet haben, nach Stimmenmehrheit gewählt, zu allen Zeiten jedoch einer uns verwandten und zur Aufnahme geeigneten Person der Vorzug unbedingt gewährt werden. Die Wahl der christlichen Wittwe aber soll in der Weise geschehen, daß vom löblichen Magistrate zu Neukalden drei dazu qualificirte Wittwen in Vorschlag gebracht und von diesen drei Wittwen eine abseiten der Administration des Stifts gewählt wird.
§ 6.
Falls sich zur Zeit oder bei einer später eintretenden Vacanz keine jüdische Wittwe im Orte befindet, welche zur Aufnahme in die Freiwohnung sich eignet, so soll solche Wohnung einer betagten Jungfrau, oder wenn auch diese sich nicht vorfindet, einem tüchtigen bejahrten Manne jüdischen Glaubens überlassen werden.
§ 7.
Sollten jedoch durchaus keine zu der besagten Freiwohnung sich qualificirenden Personen in der dortigen Israelitischen Gemeinde sich befinden, so soll die Administration des Stifts befugt seyn, diese eine Wohnung mit Ausbedingung vierteljähriger Kündigung zu vermiethen und den dafür zu erhebenden Miethszins der Gemeinde zum Besten der Synagoge oder deren Verwaltung zu übergeben. Sobald sich jedoch ein zur Aufnahme gualificirtes Individumm meldet, ist die Wohnung zu kündigen und demnächst jenen einzuräumen.
§ 8.
Sollte der Gemeindelehrer aus einer oder der andern Rücksicht, die für ihn bestimmte Freiwohnung nicht beziehen wollen, oder können, so soll auch diese einer tüchtigen israelitischen Wittwe, wenn sich eine dazu vorfindet, überlassen, oder sonst damit, wie in den §§6 und 7 angeordnet ist, verfahren werden.
§ 9.
Gegen diese der Juden - Gemeinde zu Neukaldem von uns aus freien Stücken zum ewigen Andenken unserer seligen Eltern gemachte Schenkung, machen wir der gedachten Gemeinde die Erfüllung der nachstehenden von derselben angenommenen Bedingungen zur Pflicht.
I. Die Synagoge, sowie das Stiftsgebäude dürfen niemals mit Hypothekarischen oder sonstigen Schulden belastet werden
II. Die genannten Gebäude müssen zu ewigen Zeiten auf Kosten der Gemeinde im baulichen Stande erhalten und die nöthigen Reperaturen stets daran vorgenommen werden, so wie die Gemeinde verpflichtet ist, alle jene Gebäude betreffenden öffentlichen Lasten und Abgaben zu tragen.
III. Bei jeder Todtenfeier in der Synagoge sollen die Namen unserer Eltern laut und vernehmlich vorgetragen werden so wie nach unsern dereinstigen Hinscheiden auch unsere Namen bei dem erwähnten feierlichen Acte eingeschaltet werden müssen.
IV. Der bereits von unserm Vater geschenckte Vorhang vor der heiligen Lade soll, so lange er im guten Stande, wie bisher an den Fest und Feiertagen, auch in der neuen Synagoge benutzt werden.
V. Die Synagoge so wie das Stiftsgebäude sollen zum Andenken unserer genannten Eltern, zu ewigen Zeiten, deren Namen tragen. Die von uns näher zu bestimmende Inschrift, die wir zu dem Zwecke in Stein gehauen über den Eingang der Gebäude anbringen lassen werden, muß ebenfalls von der Gemeinde auf ihre Kosten zu ewigen Zeiten in guten lesbaren Stande erhalten werden.
Die Juden - Gemeinde zu Neukalden exceptirt durch Unterschrift ihres Vorstandes das denselben in Vorstehendem gemachte Geschenk unter Uebernahme der ihr dagegen auferlegten Bedingungen. Beide contrahirende Theile versprechen sich die getreue Erfüllung aller in vorstehender Schenkungsacte enthaltenen Verbindlichkeiten, unter ausdrücklicher Entsagung aller etwa dagegen ihnen zustehenden Einreden.
So geschehen Hamburg am 15. Juny des Jahres Achtzehnhundertdreiundvierzig und Neukalden, am 25. July 1843. No. 2469 Stb. d 16. Juny 1843
Der Vorstand der Juden-Gemeinde zu Neukalden
H. Freudenthal M. Löwi
Alexander Julius Saalfeld
Bernhard Julius Saalfeld
als Schenkgeber
Daß die Vorsteher der hiesigen Juden-Gemeinde, als nämlich die Herren H. Freudenthal und M. Löwi die vorstehende Schenkungsacte, nachdem von ihnen die Erklärung geschehen, daß der Inhalt solcher Acte, ihnen genau bekannt und in allen Puncten völlig genehm sey, - in unserer Gegenwart eigenhändig unterschrieben haben, wird hiedurch attestirt.
Neukalden den 25 July 1843.
Großherzogl. Stadtgericht
Görbitz O. F. Schumacher J.F.Müller"
In Absprache zwischen dem Magistrat und den beiden Vorstehern der jüdischen Gemeinde, Kaufmann August Ascher und Kaufmann Liepmann, entstand 1846 in Anlehnung an die Goldberger Gemeindeordnung eine "Gemeinde - Ordnung für die jüdischen Einwohner der Stadt Neukalden". In ihr sind grundlegende Vorschriften zum Vorstand, zum Patronat, über die Rechnungsführung, zu den Gemeindeversammlungen (mindestens zweimal im Jahr zu Ostern und Michaelis) und den Beiträgen geregelt. Im folgenden sollen auszugsweise einige wesentliche Paragraphen wiedergegeben werden:
"§ 1.
Die jüdischen Einwohner der Stadt Neukalden bilden in Bezug auf die Angelegenheiten des Rituals in- und außerhalb der Synagoge, so wie auf das Religions- Schulwesen, die Begräbniß - Einrichtungen und das Armenwesen eine Gemeinde.
Ausschließlicher Zweck des Gemeinde - Verbandes ist die gemeinsame Handhabung der so eben bezeichneten Angelegenheiten, so wie die gemeinsame Uebertragung der darauf zu machenden Verwendungen.
§ 2.
Mitglieder dieser Gemeinde sind alle jüdischen Einwohner der Stadt Neukalden und deren Vorstädte, stimmberechtigt in Gemeindesachen jedoch nur diejenigen Gemeinde Glieder männlichen Geschlechts, welche das Einwohnerrecht und entweder einen selbstständigen Erwerb erlangt haben oder von ihren Renten leben, mit Ausschluß derer:
1. welche unter Curatel stehen,
2. welche wegen eines Verbrechens zur Untersuchung gezogen und nicht rein freigesprochen sind,
3. welche wegen Armuth keine Beiträge zur Gemeinde - Casse leisten, wofern nicht ein Gemeindebeschluß ihnen ausnahmsweise das Stimmrecht einräumt.
§ 6.
Der Vorstand besteht aus einem Vorsteher, welcher zugleich die vorkommenden Schreib - Arbeiten zu übernehmen hat.
Sein Amt ist ein Ehren - Amt, wofür er keine Renumeration erhält; erweisliche Auslagen werden ihm aus der Gemeinde - Casse erstattet.
§ 9.
Der Vorstand hat sämmtliche Angelegenheiten der Gemeinde zu verwalten und Letztere in allen Beziehungen, unter Zutritt des Patrons gerichtlich und außergerichtlich zu vertreten. Insbesondere liegt demselben auch zur Pflicht:
a, für die Aufrechterhaltung der äußeren Ordnung der Synagoge Sorge zu tragen,
b, die Aufsicht über die Synagogendiener und die Gemeindeschule zu führen,
c, dahin zu sehen, daß die Plätze in der Synagoge nach dem darüber in der Gemeinde zu treffenden Regulativ vertheilt und benutzt, die Synagoge auch in einem dem Zwecke entsprechenden Zustande erhalten werde,
d, die erforderlichen Anordnungen bei Leichenbegängnissen zu treffen,
e, die Geburts- Trauungs- und Sterbelisten zu führen in Gemäßheit der Verordnung de 9. Januar 1797,
f, die Belegung, Kündigung oder Einziehung von Capitalien zu bewirken, wobei er jedoch an die Zustimmung des Patrons gebunden ist,
g, in den von ihm zu berufenden Gemeinde - Versammlungen das Protocoll zu schreiben,
h, das von ihm zu führende Gemeinde Siegel sorgfältig aufzubewahren, auch die Acten und Papiere der Gemeinde, welche während seiner Amtsführung seiner Obhut anvertrauet bleiben, stets in guter Ordnung zu halten.
§ 22.
Zu den Bedürfnissen des Gemeindewesens haben alle Gemeinde - Glieder, die aus ihrem Gewerbe, oder Vermögen ein Einkommen genießen, mithin auch Wittwen, geschiedene Ehefrauen und unverehelichte Personen weiblichen Geschlechts, nach Verhältniß ihres Einkommens Beiträge zu leisten.
§ 31.
In allen Gemeinde - Verhandlungen darf nur die deutsche Sprache zur Anwendung kommen."
Soweit einige Auszüge aus der Gemeindeordnung vom 30.5.1846. Leider ist nur sehr wenig aus dem Leben der jüdischen Gemeinde überliefert. Erhalten blieb aber folgende Niederschrift aus dem Jahre 1852:
"Es war am 20. d. M., als sich die hiesigen Israeliten zum Abend - Gottesdienste in ihrem Gotteshause versammelten. Kaum hatte ich mich behufs der Leitung des Gottesdienstes vor das Betpult gestellt, als ich die Worte vernahm: er will vorbeten. Wer diese Worte gesprochen, wußte ich nicht, nur so viel war mir klar, daß sie sich auf einen damals hier anwesenden Handelsmann Jacobson aus Malchow bezogen, der an jenem Tage den Sterbetag einer seiner Eltern durch das Vorbeteramt nach altjüdischer Weise feiern wollte.
Darauf erwiderte ich, es sei solches nach der Synagogen - Ordnung durchaus unstatthaft. Da trat der zur Aufrechterhaltung der kirchlichen Ordnung verpflichtete Vorsteher, Herr Meyer Löwi, zu mir, und sprach etwa wie folgt: Was ist das? Sie müssen doch thun, was wir Ihnen sagen; wir haben doch die Gemeindeordnung, und da steht doch geschrieben, daß Sie haben zu thun, was wir Ihnen befehlen. Sich auf seinen Platz begebend, schließt er mit den Worten: welch eine Grobheit!
Das war mir ein wenig zu hart, und ich fragte ihn daher, wie er sich im Gotteshause, wo man sich zur Andacht versammelt, solchen Ausdrucks bedienen könnte! Da setzte sein Vater, David Löwi, dem frommen Werke noch die Krone auf, indem er zu mir sagte: Sie sind ein grober Kerl.
Sofort verließ ich bekümmerten Herzens und an die Worte denkend: Mein Haus soll ein Bethaus sein, ihr aber macht es zu einer Mördergrube, das auf so brutale Weise entwürdigte Gotteshaus. Beim Hinausgehen bemerkte ich als Augenzeugen die Herren Cohn, Hirsch und genannten Jacobson. Vom Grundsatze ausgehend, daß nicht jederman die Ehre eines Menschen antasten kann, möchte ich für diese Schmähung um keine Genugthuung nachsuchen; nur im Interesse des Gotteshauses, damit nicht öfter derartige Skandale darin vorkämen; ja, im Interesse der menschlichen Gesellschaft, da von Menschen, die ungeahndet ihr Höchstes und Heiligstes mit Gemeinheiten besudeln, Gefahr droht, erlaube ich mir ganz gehorsamst die Bitte vorzutragen:
Ein verehrliches Patronat wolle geneigen, den fraglichen Thatbestand zu untersuchen, und dahin zu wirken, daß in Zukunft solche Skandale im Gotteshause unterbleiben.
Es verharret in tiefster Hochachtung
Eines verehrlichen Patronats
gehorsamster
M. Cohn,
Religionslehrer
Neukalden, den 30sten März 1852"
Bürgermeister Ludwig Mau, als Patron der jüdischen Gemeinde, vermerkte unter dieser Beschwerde:
"Beide Löwi habe ich mit dem Inhalt bekannt gemacht, jedoch lehnen sie jede Grobheit gegen Cohn ab. Meyer Löwi behauptete übrigens, daß der Beschneider der Mauhl nach § 3 Cap. II der Synagogen Ordnung vorbeten könne.
Da Cohn bereits von hier abgegangen und durch seinen Vortrag nur eine Anzeige bezwecken will, ist die Sache auf sich beruhen zu lassen, zumal Cohn eines sehr guten Rufes sich hinsichtlich der Sittlichkeit hier nicht erfreuet.
N. 23. April 1852
Mau"
Zwischen 1850 und 1890 ging der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Neukalen auf ein Drittel zurück (von 56 auf 19 Personen). Für diese rapide Abnahme gibt es keine belegbare Erklärung. Wahrscheinlich führte die Freizügigkeit, die den jüdischen Mitbürgern inzwischen gewährt wurde, dazu, daß sie in Orte abwanderten, die ihnen bessere Entwicklungsmöglichkeiten boten als das wirtschaftlich unterentwickelte Neukalen. In dieser Zeit ist eine verstärkte Auswanderung ganzer Familien, darunter viele Landarbeiter, Knechte und Dienstmädchen, nach Amerika zu verzeichnen. In den erhalten gebliebenen Listen der Auswanderungsagenturen sind allerdings keine jüdischen Namen aufzufinden. Es mag aber möglich sein, daß Juden über andere Agenturen auswanderten.
1887 gab es nur noch die jüdischen Familien Salender, Bragenheim und Löwi in Neukalen. Wie es in einem Bericht des Bürgermeisters Mau heißt, "war seit längerer Zeit kein Gottesdienst mehr gehalten worden". Die wenigen Mitglieder der jüdischen Gemeinde wünschten eine Veräußerung der Synagoge, da sie die Lasten ihrer Erhaltung nicht mehr tragen konnten oder wollten. Vorerst lehnte der israelitische Oberrat in Schwerin den Verkauf der Synagoge jedoch ab.
1894 war die Synagoge in einem sehr schlechten Zustand. Maurermeister Wilhelm Harm formulierte die notwendigen Reparaturarbeiten so:
"Das Dach hat verschiedentfach Lecken und muß umgedeckt werden. Die an dem Giebel des Nebengebäudes in dem Dach liegende Zinkkehle ist total ruinirt und muß erneuert werden. In der Vorderfronte sind die überstehenden Gesimssteine vollständig wegzustemmen, um einem weiteren Herabfallen vorzubeugen und können die hierdurch frei werdenden Mauerflächen einfach mit Kalk übersetzt werden, dagegen sind die nach oben frei liegenden Mauertheile durch Cement zu schützen. Zu dieser Arbeit ist der Aufbau eines Gerüstes erforderlich. Die nach dem kleinen Hofe zu gelegene Sohle ist auf ca. 4,00 m zu erneuern. Die Sohle nach Kählers Hof ist gut und diejenige in der Tusche bei Zander ist zwar inwendig etwas angegangen, hält aber noch mehrere Jahre.
Die Tafelwände nach dem kleinen Hofe, nach Kählers Hof und nach Zanders Seite sind durchweg festzukeilen und zu verstreichen.
Der inwendige Putz ist vielfach lose und kann auf diesen Stellen einfach abgehackt werden.
Das Fundament auf Kählers Hof muß neu verzwickt werden.
Die Kosten für die oben aufgeführten Arbeiten mit Materialien an Dachsteinen, Latten, Holftern, Bohlholz, Kalk, Cement, auch Brettern zum Vernageln der Fenster etc. sind zu schätzen auf ca. 150 M.
Neukalen, den 3. Juli 1894 W. Harm"
Die wenigen Mitglieder der jüdischen Gemeinde sahen sich nicht in der Lage, die Reparatur der Synagoge durchführen zu lassen. Kaufmann Hermann Löwi bemühte sich um den Verkauf der Synagoge und um einen Anschluß an die jüdische Gemeinde in Dargun. Es gab nun einen regen Schriftverkehr mit der Abteilung für geistliche Angelegenheiten beim Großherzoglichen Ministerium in Schwerin, bis die bestehenden Probleme beseitigt waren.
Der Magistrat sollte im Auftrag der jüdischen Gemeinde die Synagoge meistbietend verkaufen.
Folgende Anzeige erschien in den "Amtlichen Mecklenburgischen Anzeigen", in dem "Hamburgischen Correspondenten" und im "Berliner Tageblatt":
Auf diese Anzeige hin meldeten sich einige Nachkommen und versuchten, ihre Rechte darzulegen. Nachdem sie aber erfuhren, in welchem Zustand sich die Gebäude befanden und daß hier nichts zu holen war, traten alle von ihren Forderungen zurück.
Am 14.4.1899 erfolgte der meistbietende Verkauf der Synagoge und des Stiftshauses in der Wasserstraße an den Gastwirt Kähler für 1650 Mark. Für das Gestühl bezahlte er zusätzlich 11 Mark. Die Synagoge wurde fast gänzlich abgerissen. Nur die vordere untere Seite blieb als Mauer und Auffahrt zum Hof des Gastwirts Kähler stehen.
In Grundlage der Rat- und Bürgerschlüsse vom 6. Mai 1898 und 16. März 1899 wurde die folgende Ordnung aufgestellt:
"Ordnung der der Stadt Neukalen gelegentlich der Auflösung der jüdischen Gemeinde hies. erwachsenden Rechte und Pflichten.
1. Bei der Auflösung der jüdischen Gemeinde hies. erhält die Stadt Neukalen von dem für die jüdische Synagoge gezahlten Kaufpreis, der nach Abzug aller Unkosten 1525,39 M beträgt, die eine Hälfte mit 762,69 M zu Eigentum.
2. Hiergegen zahlt der Magistrat der Stadt Neukalen jährlich 26,70 M - 3 1/2 % Zinsen obiger Summe als Beihülfe zur Wohnungsmiete zur einen Hälfte an eine in Neukalen wohnende jüdische Witwe, zur anderen Hälfte an eine in Neukalen wohnende christliche Witwe.
Die Wahl der Witwen geschieht vom Magistrat unter Beirat der in Neukalen wohnenden jüdischen Hausväter. Die Wahl darf nur auf Witwen von tadellosem sittlichen Lebenswandel fallen. Kommen bei der Auswahl hiernach mehrere Witwen zur Frage, so hat diejenige Witwe den Vorzug, die mit den Schenkern des früheren jüdischen Stiftshauses, Alexander Julius Saalfeld und Bernhard Julius Saalfeld, verwandt ist.
Soweit und solange in der Stadt Neukalen eine den Bedingungen genügende Witwe nicht wohnt, kann die Mietsentschädigung auch an eine betagte Jungfrau, oder, wenn auch eine solche fehlt, an einen dürftigen bejahrten Mann gegeben werden.
Soweit und solange hiernach überall kein Beneficant vorhanden ist, ist der für die Mietsbeihülfe ausstehende Betrag an die Casse für die Besoldung des Landesrabbiners zu Schwerin zum Besten des von dieser Casse verwalteten Baufonds für eine in der Stadt Neukalen im Bedürfnisfalle zu erbauende Synagoge zu zahlen.
3. Ferner erhält die Stadt Neukalen vom Augenblick der Auflösung der jüdischen Gemeinde an das Eigentum an dem in den sog. Judentannen belegenen jüdischen Friedhof, mit der Maßgabe, daß die Stadt den Friedhof als solchen nur mit Genehmigung des Großherz. Ministerii Abteilung für geistliche Angelegenheiten eingehen lassen kann.
4. Auch erhält die Stadt Neukalen gleichzeitig ein Kapital von 300 M ausbezahlt und hat daneben die Berechtigung, von dem zu 3 erwähnten Zeitpunct an für jede auf dem jüdischen Friedhofe zu bestattende Leiche eine Begräbnisgebühr zu erheben. Diese Gebühr beträgt:
a) für eine erwachsene Person 20 M
b) für ein Kind bis zu 14 Jahren 10 M
kann jedoch im Falle der Bedürftigkeit der Hinterbliebenen auf Antrag ganz oder teilweise vom Magistrat erlassen werden.
Zur Zahlung der Gebühr sind die Erben des Verstorbenen verpflichtet, beim Fehlen von Erben ist der Nachlaß für dieselbe verhaftet.
Die Begräbnisgebühr darf nicht mehr erhoben werden, sobald das zu 4 Abs. 1 erwähnte Kapital unter Zurechnung der erhobenen Gebühren u. etwaiger nicht verbrauchter Zinsen die Höhe von 800 M erreicht hat.
5. Hiergegen übernimmt die Stadt Neukalen die Verpflichtung, solange der jüdische Friedhof als solcher vorhanden ist, die vorerst in einen tadellosen Zustand gesetzte Umfriedigung ordnungsmäßig zu erhalten, auch für die Reinhaltung der Wege auf dem Friedhof zu sorgen.
Eine Fürsorge für die Erhaltung der einzelnen Gräber und Grabdenkmäler übernimmt die Stadt dagegen nicht.
6. Endlich hat die Stadt über die nach Ziff. 4 erhaltenen Summen solange eine von den übrigen städtischen Kassen getrennte Berechnung zu führen, bis das Kapital die Höhe von 800 M erreicht hat.
Zu diesem Zeitpunkt hört die besondere Berechnung auf u. geht das Kapital an die Stadt zu deren freier Verfügung über.
Neukalen 26 April 1899 Bürgermeister und Rat
P. Lindemann A Kossow Aug. Lange"
Im Juni 1899 wurde die Einfriedigung des Judenfriedhofs neu hergestellt, und am 22. August 1899 erfolgte die Übergabe an die Stadt Neukalen.
Vom Kaufmann Löwi, als Vorstand der jüdischen Gemeinde, wurden folgende Unterlagen an den Magistrat übergeben und an das Ministerium für geistliche Angelegenheiten in Schwerin gesandt:
1. ein Paket enthaltend ein Geburts- und Sterberegister, ein Protocollbuch,
2. ein Paket enthaltend Gemeindeacten, welche im Theil 1895 von der Familie Salender Herrn Löwi überreicht sind.
3. ein Paket Briefschaften der Gemeinde.
4. ein Paket Beläge des früh. Berechners Hirsch
5. eine Rolle betr. Stiftung der früheren Synagoge
6. ein Gemeindesiegel
7. ein Rechnungsbuch nebst 3 Paketen Beläge u. eine Liste über Erhebung von Gemeindebeiträgen.
Die Bestätigung zur Auflösung der jüdischen Gemeinde in Neukalen erfolgte am 21.8.1899:
"Im Namen pp.
Johann Albrecht pp.
Regent pp.
Die Jüdische Gemeinde der Stadt Neukalen wird hiedurch auf den vom Patron befürworteten Antrag ihres Vorstandes aufgelöst, und die Gemeindeordnung vom 30. Mai 1846 außer Kraft gesetzt.
Gegeben durch das Großherzogliche Ministerium, Abtheilung für geistliche Angelegenheiten. Schwerin, den 21. August 1899.
Auf besonderen Befehl Seiner Hoheit des Regenten."
Die wenigen in Neukalen wohnenden Juden schlossen sich ab 1.3.1900 der Gemeinde in Dargun an, haben aber so gut wie nie an Gottesdienste in Dargun teilgenommen. Schlachter F. Fehlhaber brachte am 14.11.1899 die eiserne Stiftungstafel und die Tafel mit dem Gebet für den Landesherren mit dem Pferdewagen nach Dargun. Die Kultusgegenstände, wie Gebetrollen und Vorhänge waren bereits vorher an andere Gemeinden verkauft worden.
Die Geschichte der Neukalener Juden nach 1900 beschränkt sich auf die drei noch anwesenden Familien Bragenheim, Löwi und Salender. Über diese ist folgendes bekannt:
Der Kaufmann Hirsch C. Bragenheim hatte 1875 von der Ehefrau des Klempners Kobow das Haus am Markt Nr. 3 gekauft. Nach seinem Tode (vor 1899) verkaufte seine Frau Adelheid Bragenheim das Haus an den Schneider Heinrich Schulz. Frau Bragenheim wohnte bis zu ihrem Tode im Juli 1914 noch in diesem Haus. Ihre unverheiratete Tochter Johanna Bragenheim hatte in der Mühlenstraße 4 ein kleines Geschäft mit Nähwaren. Deren Sohn Willi Bragenheim wohnte zuerst mit seiner Familie in der Mühlenstraße 4, zog dann aber um 1920 in das Haus Mühlenstraße 1 und betrieb hier eine Woll- und Weinwarenhandlung. Seine Mutter Johanna Bragenheim wohnte ebenfalls hier, bis sie im Dezember 1921 verstarb. Kaufmann Willi Bragenheim, geb. am 8.5.1888 in Neukalen, wurde im Volksmund "Kacker Bragenheim" genannt, weil er von kleiner Statur war. Seine Ehefrau, Berta Bragenheim, geb. Thiele, wohnte seit 1921 in Neukalen. Sie zog am 24.3.1926 mit ihren zwei Kindern (Horst und Gerd) nach Berlin zu ihren Eltern. Ihr Mann Willi Bragenheim folgte ihr am 27.4. 1926.
Die Familie Löwi ist seit 1800 in Neukalen ansässig gewesen. Der Handelsmann David Löwe ließ sich 1800 hier nieder und erwarb 1834 das Haus Nr. 222 (Rektorstraße 2, um 1965 abgerissen), in welchem er ein Textilgeschäft einrichtete. Sein Sohn war Kaufmann Meyer Löwi, sein Enkel Kaufmann Hermann Löwi. Der letztere verkaufte vor der Jahrhundertwende das Haus Nr. 222 und erwarb das Haus Nr. 266 (Malchiner Straße, heute Str. d. Friedens 3). Hier betrieb er das Textilgeschäft weiter. Hermann Löwi hatte drei Söhne: Richard, Emil und einen weiteren Sohn, welcher bereits1903 verstarb. Richard Löwi ist in der ersten Hälfte des Jahres 1923 aus Neukalen fortgezogen. Emil Löwi übernahm 1912 (oder etwas früher) das väterliche Geschäft. Etwa 1913/14 wurde der Laden an der Malchiner Straße vollkommen neu ausgebaut. Es war damals mit seinen großen Schaufenstern das modernste Geschäft in Neukalen.
Emil Löwi fiel im 1. Weltkrieg am 22.3.1918 in Templeux le Guerard. Seine Grabstelle ist noch heute auf dem Judenfriedhof zu sehen. Am Denkmal 1914/18 ist sein Name verzeichnet. Das Textilgeschäft führte seine Frau Johanna Löwi weiter. Sie hatte drei Kinder: Karl, Ilse und Hugo. Bereits vor 1933 hatte Frau Löwi das Textilgeschäft an Ernst Jander verpachtet. Dieser machte jedoch 1935 Pleite. Ein Vergleich vom 16.8.1935 bedingte die Auflösung des Geschäfts durch die Abhaltung eines Ausverkaufs. Der Ausverkauf des Kaufhauses Ernst Jander erfolgte bis Mitte Januar 1936. Im Zusammenhang mit den zunehmenden Repressalien gegenüber Juden ist wohl auch zu sehen, daß Frau Löwi dann gezwungen war, das Geschäft zu einem Schleuderpreis zu verkaufen. "Auf Drängen gewisser Kreise" verkaufte sie es an den Kaufmann Martin Bohn, welcher vorher ein Geschäft in der Mühlenstraße 1 hatte.
Annonce aus der Festzeitung anläßlich des Heimatfestes zu Neukalen vom 7. bis 11. Juli 1926
Rechnungskopf des Kaufhauses Ernst Jander (12.10.1933)
In diesem Haus in der Straße des Friedens befand sich früher das Geschäft der Familie Löwi (Foto von 1990)
Laut einer schriftlichen Eintragung beim Magistrat verzog Frau Löwi am 29.10.1935 nach Breslau 18, Eichendorfbr. 40. Nach mündlichen Überlieferungen soll Frau Löwi nach Berlin und später nach England verzogen sein. Ein anderer will sie in Neubrandenburg beim Abtransport in ein Vernichtungslager gesehen haben.
Über den Verbleib der Kinder von Johanna Löwi ist folgendes bekannt:
Karl Löwi, geb. 20.7.1908, studierte ab 1929 in Rostock. Er wollte Rechtsanwalt werden. Als er sein Studium beenden wollte, ließ man ihn immer wieder durch die Prüfung fallen. Er soll dabei fast verrückt geworden sein. Etwa 1934/35 wanderte er nach Toronto in Kanada aus.
Ilse Löwi, geb. 20.3.1911, zog nach Berlin und soll dort früh verstorben sein.
Hugo Löwi, geb. 9.11.1912, zog am 6.4.1931 als Kaufmann nach Hamburg.
Mit dem Fortgang der Frau Löwi 1935 wohnten nur noch zwei Jüdinnen, die unverheirateten Schwestern Bertha und Amalie Salender, in Neukalen. Ihr Vater, der Handelsmann Jacob Salender, hatte 1843 das Haus Nr. 137 (Mühlenstraße 14) vom Schuster Heinrich Schulz gekauft. Hier lebten Bertha und Amalie Salender in den letzten Jahren ziemlich ärmlich und zurückgezogen von ihren Ersparnissen. Eine weitere Schwester, Albiene Salender, war bereits 1904 verstorben. Es soll auch noch einen Bruder gegeben haben, über dessen Verbleib aber nichts mehr bekannt ist.
Bertha Salender starb 1937 im 92. Lebensjahr. Sie war das älteste Mitglied der Landesgemeinde in Mecklenburg. Zu ihrer Bestattung auf dem Judenfriedhof kamen in Anbetracht der systematischen Hetze gegen die Juden relativ viele Teilnehmer.
Amalie Salender starb am 19.3.1938. Sie soll sich erhängt haben, da sie die Einsamkeit und Schmähungen nicht länger ertrug. Sie wurde ebenfalls auf dem Judenfriedhof in den "Judentannen" beerdigt. Als Erben traten Paul und Walter Salender aus Berlin auf, der erstere verkaufte im Herbst 1938 das Haus.
Als der Rat der Stadt Neukalen am 14.10.1938 die Festlegung erließ, daß die Benutzung der städtischen Badeanstalt nur Personen deutschstämmigen Blutes gestattet sei, lebten längst keine Juden mehr in Neukalen. Irgendwelche tätlichen Ausschreitungen gegen Juden hat es in Neukalen nicht gegeben.
Das frühere jüdische Stiftshaus in der Wasserstraße (Foto um 1955)
Das frühere jüdische Stiftshaus um 1960
(rechts im Bild die Reste der Synagoge)